Mal ehrlich: Erwachsen sein ist ziemlich anstrengend und ein Rattenschwanz von Verpflichtungen raubt einem oft den letzten Nerv. Den meisten Menschen ist es jedenfalls nicht vergönnt, vor den Erwachsenwerden davonzulaufen, oder, wie im Fall Peter Pan: davonzufliegen. Die Realverfilmung „Peter Pan“ von P. J. Hogan (2003) beleuchtet aber auch die Nachteile und Unvollkommenheit einer „ewigen Kindheit“.
Peter Pan und Wendy Darling: Zwischen den Welten
Die Begegnung zwischen einem „verlorenen Jungen“ aus dem Nimmerland und einem Mädchen im viktorianischen London ist eigentlich ein seltsamer Zufall. Denn Peter hat auf seinem ziellosen Flug einfach nur an Wendys Fenster gelauscht und sie dabei beobachtet, wie sie ihren Brüdern abenteuerliche Gutenachtgeschichten erzählt. Ihre Märchen fesseln seine Aufmerksamkeit und er erzählt sie nach seiner Rückkehr in die Fantasiewelt „Nimmerland“ seiner Gruppe, einer wilden Horde elternloser Jungen. „Mädchen sind zu schlau, um aus dem Kinderwagen zu fallen“, erzählt er Wendy später mit einem typisch schelmischen Grinsen. In einer Nacht verliert er im Haus von Wendys Familie seinen Schatten, den sie ihm kurzerhand wieder annäht. Dankbar für diese Hilfe und begeistert von Wendys Fähigkeiten als Geschichtenerzählerin bietet er ihr und ihren Brüdern an, mit ins Nimmerland zu kommen und ihnen eine Welt zu zeigen, in denen niemand wirklich erwachsen werden muss. Denn Peter will niemals „ein Mann werden“, ins Büro gehen, Verantwortung für eine echte Familie übernehmen und ist deshalb vor langer Zeit aus seinem eigenen Elternhaus „einfach abgehauen“.
Anfangs ist Wendy begeistert. Plötzlich kann sie mit der Kraft fröhlicher Gedanken fliegen und entgeht selbst dem Zwang, „endlich erwachsen zu werden“ oder sich gar auf eine Heirat vorzubereiten, für die sie sich längst nicht bereit fühlt. Trotz einer eifersüchtigen, wenn auch nicht absichtlich böswilligen Intrige von Peters Feenfreundin „Glöckchen“ (bei Disney auch als Tinkerbell bekannt) wird sie bei den „verlorenen Jungen“ herzlich aufgenommen. Das Leben dieser Jungen erinnert ein wenig an Fieldings Roman „Herr der Fliegen“ – sie haben ihre ganz eigenen archaischen Rituale entwickelt. Unterstützt werden sie dabei auch von der jungen Ureinwohnerin Tiger Lily, die das einzige Mädchen ringsum ist. Es bleibt unklar, wie genau all diese Kinder ins Nimmerland gekommen sind – aber sie erkennen Peter als ihren Anführer und „Vater“ an. Und Wendy als ihre „Mutter“ – weil sie ihre Geschichten lieben. Doch das ist nicht alles, was Wendy ihnen gibt. Sie bringt auch neue Rituale, klare Regeln und mehr Alltagsstruktur in das Zusammenleben ein. Alles Dinge, die gemeinhin mit der „Erwachsenenwelt“ verknüpft sind, die Peter Pan allerdings erstaunlicherweise klaglos akzeptiert.
Für Peter ist das Leben ein einziges großes Abenteuer – er ist der Held seines eigenen Märchens. Sei es als Anführer seiner Gruppe, als Übersetzer der Nixen und Feen oder im Kampf gegen seinen ewigen Erzfeind Captain Hook – Peter Pan gewinnt immer. So kennt er es, so liebt er es. Leider bleibt dabei auch oft eine gesunde Einschätzung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten auf der Strecke und er scheut vor seinen eigenen „erwachsenen“ Gefühlen zurück, die er für Wendy entwickelt. „Das hier … passiert doch nur in unserer Fantasie?“, will er sich rückversichern, als er mit Wendy im Glanz der Irrlichter tanzt. Als Wendy ihm aber ihre eigenen Wünsche offenbart, mit ihm eine „echte“ Beziehung zu führen, gerät er in Panik. „Ich fühle gar nichts. Es war doch schön, so wie es ist. Warum musst du jetzt alles kaputt machen? Du kannst mich nicht zwingen, erwachsen zu werden!“, schreit er sie an und tut, was er am besten kann – vor Problemen davonfliegen. Wendy bringt seine perfekte kindliche Gefühls- und Gedankenwelt ins Wanken, was ihm zutiefst verunsichert.
Ausgerechnet ein Gespräch mit James Hook bringt Wendy zum Nachdenken darüber, ob Peter für sie je der „Mann“ werden kann, mit dem sie ihr Leben verbringen möchte. Ihre Verzweiflung und emotionale Verwirrung macht sie empfänglich für die geschickte Manipulation durch Peters Erzfeind, sodass er sie kurzzeitig überzeugen kann, als Geschichtenerzählerin und „Juwelen-Lucy“ seiner Crew beizutreten.
Hook vs. Pan – ein Generationenkonflikt?
Aber warum ist Captain Hook eigentlich so abgrundtief hinterlistig und was hat das alles mit Peter Pan zu tun? Über Hook selbst erfährt man vergleichsweise wenig. Man lernt ihn als Leser (und Zuschauer) vor allem als Piratenkapitän kennen, der alles daran setzt, seine Macht zu ersetzen und zu erweitern. Im Gegensatz zu Peter hat Hook viele und tiefe Gefühle – jedoch meist ausschließlich negative. So verabreicht er seinen Feinden oft heimlich ein Gift aus seinen eigenen blutigen Tränen, aus „Hass, Verzweiflung und Verbitterung“. Hook hasst Peter Pan, weil dieser sein exaktes Gegenstück ist. Immer optimistisch und leichten Herzens, mit ewiger Jugend gesegnet. Ganz nebenbei hat er im Kampf mit Peter auch eine seiner Hände verloren und fühlt sich seitdem von dem gigantischen Krokodil verfolgt, das diese gefressen hat. Ein Umstand, der ihm die grausame Hakenhand als Markenzeichen eingebracht hat.
Hook und Pan könnten nicht gegensätzlicher sein – Pan nennt Hook bei jedem Schwertgefecht einen „verbitterten alten Mann“ und Hook beschimpft seinen Gegner als „unverschämten, selbstherrlichen Bengel“. Ironischerweise haben beide damit ein wenig Recht – und dieser extreme Unterschied verbindet sie. Für Hook erscheint Peters ewige Jugend und sein ewig jungenhaftes Gemüt zugleich faszinierend und verachtenswert. Peter hingegen fährt fort, Hook in Form eines Holzkrokodils mit seinen eigenen Dämonen heimzusuchen und sieht den „alten Mann“ als Beweis dafür, was passiert, wenn man die Kindheit hinter sich lässt und „zum Mann wird“.
Die beiden verabscheuen sich aus tiefstem Herzen, brauchen sich aber gegenseitig als Feinde, um den Blick auf sich selbst positiv zu bestätigen und sich im Recht zu fühlen. Ob Hook selbst eventuell als „verlorener Junge“ ins Nimmerland kam und durch irgendeinen Umstand in eine dunkle Sphäre von Hass und Gier abrutschte, bleibt offen. Man erfährt auch nicht, wie es Pan weiter ergeht, nachdem Hook schließlich nach Jahren der Selbsttäuschung von seinem eigenen Dämon, dem Riesenkrokodil, verschlungen wird. „Du stirbst allein und ungeliebt, Peter Pan. Genauso wie ich“, prophezeit Hook Peter in einem kritischen Kampfmoment. Und ohne Wendys „Fingerhut“ (also ihrem Kuss) hätte er vermutlich sogar Recht behalten.
Notausgang Nimmerland: Wendys Lebenswelt
„Peter Pan“ ist ursprünglich eine Schöpfung des britischen Autors James Matthew Barrie (1860 -1937). Und natürlich spiegelt auch das Ausgangsszenario der Geschichte, nämlich die „echte Welt“ der Familie Darling, Barries eigenes Erleben der viktorianischen und postviktorianischen Ära wieder. Eine Zeit mit einer sehr dynamischen Entwicklung in den Bereichen Wirtschaft und Technologie kommt, in der die Gesellschaftsstruktur aber nach wie vor strengen Rollenklischees, Klassenvorstellungen und Verhaltensnormen folgt.
Kein Wunder, dass die fantasievolle Wendy Darling nur zu gerne einer Welt entflieht, die jungen Damen durch Heiratszwang und strenge Benimmregeln jegliche Freiheiten stiehlt. Dabei möchte sie doch einfach nur Bücher schreiben und Geschichten erzählen! Peter kommt für sie also gerade zur rechten Zeit, um seinen verlorenen Schatten zu suchen, nachdem ihre Tante Millicent erstmalig das Thema „Heirat“ erwähnt hat. Er wird so zum „Retter in der Not“, zum Fluchthelfer, ohne dies beabsichtigt zu haben. Zu dem Jungen, der ihre Träume und Leidenschaften teilt und mit dem sie alle Abenteuer der Welt bestehen möchte.
Teenager im Gefühlslabyrinth
In der Literaturwissenschaft gibt es den Begriff der „Coming-of-age-Story“. Diese Kategorie trifft zumindest auf einige der Charaktere in „Peter Pan“ zu, die sich irgendwo zwischen den Extrempolen des „verbitterten alten Mannes“ Hook und des “ewigen Jungen“ Pan ansiedeln. Generell stellt die Jugendzeit oder auch Pubertät die Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein dar. Oder, wie Britney Spears es besingt: „I’m not a girl, not yet a woman!“.
Auch Wendy und Peter bleiben natürlich vor den Folgen des „Dazwischenseins“ nicht verschont – und schlagen am Ende unterschiedliche Wege ein. Ein wichtiger Schlüsselmoment ist für Wendy sicherlich, dass Peter sich niemals in der Lage sieht, ihr die Beziehung zu geben, die sie sich erhofft. Ironischerweise ist sogar Hook in dieser Sache grundehrlich, als er erwähnt, Peter Pan hätte „das Glück, so oft nichts zu fühlen“. Und als Wendys Brüder im Nimmerland schon vergessen haben, woher sie kommen und wer ihre leiblichen Eltern sind, zieht sie die Notbremse. Die Jugendliche sieht ein, dass sie jetzt Verantwortung für sich und ihre Brüder übernehmen und mit ihnen nach Hause zurückkehren muss.Denn sie spürt, dass sie ansonsten bald ebenso entwurzelt sein wird wie Peter Pan oder Captain Hook.
Die überraschendste Wendung ist wahrscheinlich, dass nicht nur Wendy, John und Michael am Ende in eine Welt zurückkehren, die nach den Regeln der Erwachsenen funktioniert. Auch die „verlorenen Jungen“ hinter Peter Pan wünschen sich, den Geschwistern in ihre Lebenswelt zu folgen und in einer Familie „anzukommen“. Am Ende resümiert Wendy als Erzählerin des Romans: „Alle Kinder werden irgendwann erwachsen, das ist der Lauf der Dinge. Alle außer Peter Pan“.
Die Darlings – eine fast gewöhnliche Familie
Immerhin sind die Darlings eine Familie, in deren Schoß man aus dem Nimmerland gern zurückkehrt. Gemessen an den gesellschaftlichen Standards ihrer Zeit fällt sie oftmals „aus der Rolle“. Der Vater, ein sympathisch introvertierter Bankangestellter, besitzt eine „Ideenschublade“, in denen er all seine großen Träume und Ideen seiner Kindheit aufbewahrt. Seine Frau, eine freundliche, intelligente Dame mit gelassenem Gemüt, bezeichnet ihn als „tapfer“, weil er „so viele Träume für seine Familie aufgegeben“ habe. Vermutlich auch ein Grund, warum Peter Pan niemals erwachsen werden möchte.
Mit Hund „Nana“ als Babysitter und vielen Freiheiten für Wendy, Michael und John würde man die Familie Darling heute als Verfechter eines antiautoritären oder zumindest demokratischen Erziehungsstils bezeichnen. Nicht besonders üblich in dieser Zeitepoche – und ein Dorn im Auge für die exaltierte Tante Millicent, die viel darüber nachdenkt, „was die Leute sagen“ und wie aus Wendy endlich „eine junge Dame“ werden kann.
Nach einer Blamage vor dem Arbeitgeber des Vaters versucht sich dieser kurzzeitig in viktorianischer Strenge. Doch nach der ersehnten Rückkehr der Kinder aus dem Nimmerland werden aus den Darlings eben wieder die Darlings, wie sie vorher waren. Herzlichkeit und Toleranz siegen über Tradition und die Familie adoptiert kurzerhand auch die anderen Jungen, die sich so sehnlichst eine Familie wünschen. Selbst die kinderlose Millicent verkündet am Ende stolz: „Seht her, ich habe einen Sohn!“. Derweil sitzt Peter Pan am Fenster und wird sich darüber klar, dass dieses Leben wohl das einzige Abenteuer sein wird, das er niemals erleben wird.
Über den Film: Cast, Setting und FSK
Wenngleich es sich um eine ältere Verfilmung der „Peter Pan“-Geschichte handelt, dürften einige Namen im Cast noch heute bekannt sein, beispielsweise Rachel Hurd-Wood als Wendy, Jeremy Sumpter als Peter Pan und Jason Isaacs als Captain Hook. Der Film wurde vor zwei realistisch anmutenden Kulissen gedreht:im viktorianischen London und in einem spektakulären Natursetting, das das Nimmerland darstellt.
Die FSK- Angabe empfiehlt den Film ab einem Alter von zwölf Jahren – zu Recht! Denn in der ungeschnittenen Version schwingt Hook doch ein paarmal zu oft seinen tödlichen Haken, um Kinder im Kindergarten- oder Grundschulalter daran teilhaben zu lassen. Auch die Kulisse der "Schwarzen Burg" und die "Bestie", die Hook verfolgt, kann Kinder im Vorschulalter womöglich noch ängstigen. Für jüngere Kinder ist daher wohl eher die geschnittene Variante ab sechs Jahren oder aber die Disney-Version zu empfehlen.
Insgesamt zeichnet die Verfilmung von P. J. Hogan ein faszinierendes und vielschichtiges Bild der Welten, in denen Captain Hook, Peter Pan und Wendy Darling sich bewegen, scheitern, kämpfen, sich weiterentwickeln und – im Guten wie im Schlechten – Entscheidungen treffen. Stellenweise fällt es schwer, „den einen“ strahlenden Helden oder den „Endgegner“ eindeutig festzulegen. Denn dazu erscheinen ausnahmslos alle Charaktere zu menschlich - mit besonderen Gaben, ureigenen Stärken, Schwächen und Abgründen. Ob Hook unter anderen Umständen auch „einer von den Guten“ sein könnte oder ein eigenes Trauma erlebt hat? Vielleicht. Peter Pan, der erwachsen wird und reale Verantwortung übernimmt? Für einige Momente mag man daran glauben, vor allem, als er um seine vergiftete Freundin Glöckchen weint. Und Wendy, die wirklich eine Autorenkarriere beginnt? Möglich, aber wenn, wie damals üblich, eher unter männlichem Pseudonym.
Fantasy-Filmfans, die hinter die glänzende Fassade von Disney-Trickfilmen schauen wollen und detailgetreue Realverfilmungen bevorzugen, sind bei Hogans „Peter Pan“ jedenfalls an der richtigen Adresse.
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