„Dann iss doch einfach mal weniger!“ und „Mach mehr Sport, dann nimmst du auch ab!“. „Lass‘ doch mal die Kohlenhydrate weg!“ und „Versuch, abends nach 19 Uhr nichts mehr zu essen!“. Ratschläge gibt es viele, um – gemessen am BMI – überschüssige Pfunde loszuwerden. Und tatsächlich haben viele westliche Industrieländer rein statistisch betrachtet inzwischen ein wirklich „fettes Problem“ in Sachen kollektive Gesundheitsvorsorge. Aber reicht es tatsächlich aus, die Verantwortung für körperfreundliche, wirklich sättigende und nährstoffreiche Ernährung auf das Individuum und damit den Endverbraucher abzuwälzen?
Diätprogramme boomen in den USA und Westeuropa. Denn viele Entscheiderinnen und Entscheider in der Politik, aber auch innerhalb der Bevölkerung sind zum gleichen Schluss gekommen: „Ran an den Speck!“ und „Der Speck muss weg!“. Hierfür wird dann sehr oft am einfachsten und „offensichtlichsten“ Hebel gezogen – an den Menschen, die von Übergewicht und mehr oder weniger ausgeprägter Adipositas betroffen sind. SIE sollen gefälligst ihr Leben auf den Kopf stellen, sich endlich gesünder ernähren und den Hintern von der Couch hochbekommen. Schließlich ist das ihr Problem, und das sollen sie auch aus eigener Kraft lösen - oder mithilfe eines der zahlreichen Angebote zur Gewichtsreduktion.
Vorab: Ich bin absolut dafür, sich nicht ausschließlich von Fast-Food mit hoher Kaloriendichte und niedrigem „echten“ Nährstoffgehalt zu ernähren. Als intuitive Esserin merke ich deutlich, dass Schokolade, Weißbrot und Pommes mit Mayonnaise allein als Lebensgrundlage einfach nicht taugen. Denn sie treiben den Insulinspiegel erst einmal unnötig in die Höhe, um ihn dann wieder rapide absenken zu lassen und neue Hungersignale im Gehirn zu erzeugen. Nach wenigen Tagen vorwiegend Fast Food (oft bedingt durch mangelnde Achtsamkeit in stressigen oder fordernden Situationen) setzt mir mein Körper irgendwann automatisch eine Grenze. Die Verdauung wird schwieriger, ich fühle mich schlapper als sonst und trotz Essen nicht wirklich satt. Also schreit mein Körper nach „echten“ Nährstoffen. Nach Vollkornreis, Gemüse, Obst, Haferflocken mit hohem Ballaststoffgehalt. Oder, wie mein Mann sagen würde: „Endlich mal wieder was Ordentliches!“.
Und natürlich trägt auch ein gesundes Maß an körperlicher Bewegung, die idealerweise noch einen sozialen Anteil hat (z.B. Ballsportarten, Zumba, Vereine, Reiten), zum Wohlbefinden eines Menschen bei. Ganz egal, was die Waage zeigt. OK, nicht jede Sportart ist für jeden Menschen gleich gut geeignet – aber in der Regel sollte jeder im breitgefächerten Angebot doch etwas finden, das ihn motiviert.
Die „Kläger“ machen es sich zu leicht!
„Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, sagte meine Oma früher oft, wenn einem in der Familie etwas schief ging. So ähnlich mag es auch im Fall der viel beschworenen „Adipositas-Epidemie“ aussehen. Dass allzu starkes Übergewicht kurz- oder langfristig zu gesundheitlichen Problemen und einer verkürzten Lebensdauer führen kann, möchte ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten. Der Beweis zeigt sich spätestens dann, wenn man in TV-Dokumentationen oder reißerischen Diät-Shows Menschen sieht, denen schon das Hochsteigen einer Treppe massive Probleme bereitet oder die gar noch stärker in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind.
Wenn man schließlich in seriös recherchierten Dokumentationen das Schicksal von Menschen verfolgt, die z.B. schon auf einen Rollstuhl angewiesen sind, darf man sich fragen: Wie konnte es so weit kommen? Waren diese Menschen einfach nur „zu faul zum Sport“ oder „zu dumm für gesundes Essen“, wie es gerne dargestellt wird? Oder gibt es andere Faktoren, die dafür sorgen, dass eine „falsche“ Ernährung ebenso statistisch betrachtet für so viele Menschen zum Problem wird? Der Haken an letzterer Theorie: Oft wollen die Verantwortlichen ihren Anteil an multifaktoriellen Geschehen nicht wahrhaben oder ziehen sich galant aus der Affäre, wenn es Zeit wird, zu eigenen Fehlentscheidungen zu stehen. Es ist eben sehr viel einfacher, einstimmig auf die Eigenverantwortung des Bürgers und Verbrauchers zu verweisen.
Übersättigt, aber mangelernährt – wie kann das sein?
„Warum werde ich nicht satt?“, fragen die „Toten Hosen“ in einem ihrer Songs in einem anderen Kontext. Ein weiterer kleiner Exkurs, um dieses Phänomen in Bezug auf Nahrung zu erläutern, ist ein ähnliches Phänomen aus der Sexualforschung. Hier stellen Wissenschaftler inzwischen vermehrt fest, dass immer mehr Menschen in „reichen“ Industrienationen „oversexed, but underfucked“ sind. Sprich: Die Adult-Entertainment-Industrie (eingeschlossen der Pornografiemarkt) bietet immer mehr Anreize, um so etwas wie eine selbstbestimmte sexuelle Erfüllung zu finden. Kein Fetisch, keine Fantasie, zu denen es nicht die passenden Produkte gäbe, um sie sofort umzusetzen. Egal ob real oder eben virtuell mit einer VR-Brille.
Gleichzeitig ist nachgewiesen, dass das Verhältnis zu „echter Intimität“ mit realen Partnern zum Anfassen zunehmend durch ein Überangebot sexueller Reize an jeder Straßenecke und in vielen Werbemediengestört wird. Sprich, die Wahrnehmung von Realität verschiebt sich vom „echten“ Menschen, der eben auch weniger aufregende Seiten, Dellen, „Schönheitsmakel“ und persönliche Eigenheiten hat, zu einem künstlichen Ideal mit stereotypen Rollen und äußerlichen Merkmalen. Hinzu kommt, dass die Bereiche im Gehirn, die für sexuelles Begehren zuständig sind, durch das ständige Überangebot sofort verfügbarer Reize schlicht überfordert, sozusagen „übersättigt“ werden. Die Folge: sexuelles Desinteresse an Menschen, die nicht dem „Pornoschema“ entsprechen – oder eine komplett heruntergefahrene Libido.
So weit, so seltsam – aber was hat das denn nun mit Ernährung und kollektivem Übergewicht zu tun? Ganz einfach – eine wohlschmeckende, sättigende Mahlzeit kann im Gehirn den gleichen Belohnungsreiz auslösen wie als angenehm empfundener Sex. Denn alle sinnlichen Erfahrungen spielen sich im „Belohnungszentrum“ im Kleinhirn ab, welches nicht für die rationalen, analytischen Prozesse verantwortlich ist, sondern für die direkte Wahrnehmung von Sinnesreizen. Nicht umsonst sprechen manche Bloggerinnen und Blogger, aber auch Influencer von „Food Porn“, wenn sie bestimmte Lebensmittel zu sich nehmen. Kl
Testareal Buffet - ein Erklärungsversuch
Überträgt man das Prinzip „oversexed , but underfucked“ also auf das, was tagtäglich in unserem Magen landet, könnte ein typisches Beispiel in etwa so aussehen … Da ist dieses riesige All-You-Can-Eat-Buffet mit einem unbegrenzten Angebot an teils sehr fett- und zuckerreichen Speisen direkt vor unserer Nase. Wir gehen mit unserem großen Teller dorthin, füllen ihn dank der dargebotenen Versuchung randvoll, gehen zurück zu unserem Platz und fühlen uns in unserem Belohnungszentrum so „high“ von all diesen sinnlichen Reizen, dass wir unseren Teller wie im Rausch leer essen. Aber ist ja nicht schlimm – immerhin wird das Buffet kontinuierlich nachgefüllt. Schon nach kurzer Zeit sind wir wieder so auf „Cold Turkey“, dass wir ein zweites, drittes, viertes … Mal losgehen, um uns eine Dosis Fett und Zucker abzuholen.
Zu Hause wartet das leckere Obst, das wir eigentlich zum Abendessen in den Quark hineinschnippeln wollten. Doch wir fühlen uns übersättigt, der Magen grummelt und die Verdauung stockt auch. Jetzt noch was „Gesundes“? Och nee, ein Riegel Schokolade – oder auch zwei – müssen genügen, um anschließend ins totale Fresskoma zu fallen. Die begriffliche Nähe zur Sprache der Drogenszene ist übrigens gewollt, denn gerade neuere Studien beweisen, dass der überall eingesetzte Kristallzucker im Gehirn tatsächlich wie eine Droge wirkt. Was so manchen Anfall von Heißhunger teilweise erklären dürfte.
Auf welchen Säulen steht unsere Ernährung?
Angefangen hat das Dilemma mit dem totalen Überschuss an Kohlehydraten eigentlich in den 1970er Jahren in den USA. Dort wurde nach einem vermehrten Aufkommen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen seitens der American Society for Nutritional Sciences (ASNS) eine Ernährungspyramide auf den Weg gebracht, deren Basis überwiegend Kohlenhydrate, ergo, Getreideprodukte bilden. Faktisch werden alle Kohlenhydrate im Magen-Darm-Trakt zu Zucker „umgebaut“, um als solcher verdaut zu werden. Langkettige KH übrigens sehr viel langsamer als kurzkettige. Deswegen machen Vollkornprodukte uns auch schneller und nachhaltiger satt als Weißmehlprodukte. Fette, vor allem tierische Fette hingegen wurden so zum „stillen Killer“ erklärt.
Nun darf man sich natürlich über ethische Fragen rund um Massentierhaltung streiten, aber das ist eine andere Baustelle. Ironischerweise wurden gerade die Getreideprodukte, speziell stark verarbeitete Speisen mit billig hergestelltem Maissirup, über Jahrzehnte zum Treiber von Adipositas und … noch mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch die wissenschaftliche Unabhängigkeit der ASNS von Lobbyisten und „Sponsoren“ wird übrigens immer wieder angezweifelt. Gemäß dem Motto: Man beißt nicht in die Hand, die einen füttert. Bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mag man diese Entwicklung auch nicht ausschließen, aber das würde nun in Spekulation ausarten.
Nach dieser kleinen Anekdote möchte ich aber zur Kernfrage dieses Artikels zurückkehren. Wenn so viele Menschen sich „falsch“ ernähren und zu oft zu hochkalorischen Fertigprodukten greifen –welche Faktoren in ihrer Umwelt veranlassen sie eigentlich dazu? Man darf sich diese Faktoren und „Taktgeber“ von Nahrungsentscheidungen gern als tragende Säulen vorstellen.
Erste Säule: Angebot und Verfügbarkeit
Angebot und Verfügbarkeit von Lebensmitteln – das soll in unserer hochindustrialisierten, durchtechnisierten Gesellschaft tatsächlich noch ein Problem sein? Ja- und nein. Natürlich ist es nicht allzu schwierig, bei einem ständigen Überangebot an Nahrungsmitteln (und bei entsprechender haarsträubender Verschwendung) etwas zu finden, das auf den ersten Bissen den körperlichen Hunger vermeintlich stillen kann. Schaut man jedoch gerade in den USA genauer bei der Verfügbarkeit z.B. von frischem oder tiefgekühltem Obst und Gemüse sowie Vollkornprodukten hin, tun sich gerade in „ärmeren“ Gegenden nahezu Versorgungswüsten auf. Zumindest bezeichnete es Michelle Obama zu ihrer Zeit als First Lady einmal so, als sie die Gegend rund um Washington DC besuchte.
Das praktische und logistische Problem bei der Versorgung bestimmter Areale mit weniger verarbeiteten Lebensmitteln: Diese gibt es oft nur in den größeren Supermärkten in der Shopping-Mall. Unerreichbar für diejenigen, die in weniger privilegierten Stadtvierteln oder gar außerhalb der Stadtzentren wohnen und sich vielleicht kein Auto leisten können. Damit auch diese Menschen fußläufig mit Nahrung versorgt werden konnten, ergriffen die großen Fast-Food-Konzerne ihre Chance, kauften dort alle Grundstücke auf und errichteten ihre Fresstempel als vermeintliches „Schlaraffenland für Arme“.
Zweite Säule: finanzielle Ressourcen und Verbraucherpreise
Billiges Essen für diejenigen, die sehr genau auf den Preis achten müssen, klingt doch super, oder? Naja, ehrlich gesagt werden den Menschen vor Ort mit dieser Strategie viele leere Kalorien und wenige wertvolle Nährstoffe verkauft. Nicht, dass die „regulären“ Supermärkte ein viel besseres Beispiel abgeben würde. Es gibt zwar viel für’s Geld und mit genug Rabattcoupons noch mehr. Aber eben auch vieles, das keinen wirklichen „Nährwert“ bietet. Verglichen mit Süßigkeiten, Softdrinks, frittierten oder pulverisierten Fertigmahlzeiten „aus dem Labor“ sind Obst, Gemüse, Vollkornprodukte und generell weniger verarbeitete Lebensmittel nämlich vergleichsweise teuer. Wenn Mineralwasser viel mehr kostet als zuckerhaltige Limonaden, gibt das zumindest mir ziemlich zu denken.
Neben dem, was verfügbar ist, kauft der Kunde nämlich auch das, was seinen finanziellen Ressourcen entspricht. Sprich: Wer wenig hat und wenig verdient, kauft und isst auch so „billig“ wie möglich. Generell weisen Extrarabatte auf noch mehr Limonade, Cornflakes und Tiefkühlpizza aber auch „Besserverdiener“ in die falsche Richtung. Denn sparen und sein Geld zusammenhalten will jeder! In einer Gesellschaft, deren Ernährung weltweit von wenigen Konzernen gesteuert wird, mussten natürlich auch Vorstöße wie eine erhöhte Mehrwertsteuer auf Softdrinks scheitern. Sprich: Würde man z.B. die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse senken, wie es bei uns in Deutschland zurzeit im Raum steht, fiele die Entscheidung für „Frisches und Gesundes“ vielen Verbrauchern finanziell wohl auch leichter.
In den USA sind Verbraucherpreise übrigens insofern für die weniger Privilegierten eine wichtige Stellschraube, dass die staatlichen Sozialleistungen dort auf ein absolutes Minimum beschränkt werden. Dies bedeutet konkret: nur sehr begrenzt Arbeitslosenhilfe, wenn überhaupt, keine kostenfreie oder kostenreduzierte Kinderbetreuung, keine vorgeschriebene Krankenversicherung, keine Elternzeit, kaum staatliche Zuschüsse wie z.B. Wohngeld. Die Menschen dort haben also allen Grund, maximal an Dingen des täglichen Bedarfs zu sparen.
Dritte Säule: Wissen und Erfahrung
„Unwissen schützt vor Strafe nicht“ – ein weiteres Sprichwort von Oma, die zugegebenermaßen noch in der Hochphase autoritärer Erziehungsstile groß geworden ist. In Bezug auf eine komplett unachtsame und „gedankenlose“ Ernährungsweise hat sie damit aber nicht ganz Unrecht. Ebenso wie mit der sehr gängigen Feststellung: „Du bist, was du isst“. Ganz so dogmatisch muss man die Sache mit dem Essen nun nicht betrachten, es sollte sich nur jeder dessen bewusst sein, dass Entscheidungen für oder gegen Lebensmittel oder auch Bewegung im Alltag natürlich das eigene Wohlbefinden, das Körpergefühl und den körperlichen Gesamtzustand beeinflussen.
Nicht nur, wenn es um Gewicht und „Äußerlichkeiten“ geht, sondern eben auch unter anderem die Gehirnleistung (Video zur Doku s.u.). Nicht umsonst spricht man von „Brain Food“ oder “Studentenfutter“. Manche Lebensmittelkombinationen eignen sich besser dazu, den Stoffwechsel und die „grauen Zellen“ anzuregen, andere weniger. Eine weitere Wissenssparte, die vielen Menschen (auch mir teilweise) in einem stark bis gnadenlos durchgetakteten Arbeits- und Familienalltag zunehmend verloren geht, sind die „Grundlagen der Nahrungszubereitung“.
Wusste meine Oma noch aus dem Kopf, wie man selbst Marmelade oder Obst einkocht, einen bestimmten Kuchen backt oder Pudding ohne Fertigmischung macht, müsste ich mir diese „Life-Hacks“ heute zusätzlich über Rezeptseiten und Videotutorials aneignen. Und so geht es wahrscheinlich sehr vielen, wenngleich es durchaus schon eine „Gegenbewegung“ zu immer mehr Fertigprodukten in der DIY-Szene gibt. Das ist eine tolle Sache, dazu muss man neben allen anderen Aktivitäten im Alltag aber auch die Zeit haben!
Vierte Säule: Zeit und Biorhythmus
In den USA ist es üblich, mehrere Jobs auf einmal zu haben. Das kann im Zweifel auch lebensrettend sein, denn nebenbei existiert kein rechtsgültiger Kündigungsschutz. Ich möchte dieses Lebens- und Arbeitsmodell gar nicht als rein negativ oder rein positiv bewerten. Denn die Menschen in den USA sind ebenso wie ich in ihr System hineingewachsen und haben einen ganz anderen Blickwinkel darauf als ich „sicherheitsverwöhnte Deutsche“. Ein Klischee über Deutsche, das bei mir ausnahmsweise einmal voll ins Schwarze trifft.
Der Faktor Zeit ist aber auch in Hinblick auf unterschiedliche Chronotypen entscheidend, denn unser Schlaf-Wach-Rhythmus beeinflusst natürlich auch unsere Zeiten, in denen wir essen! Durch gesellschaftlich festgelegte Schul-, Kita- und Arbeitszeiten, oft noch im Schichtdienst, kommt unsere „natürliche innere Uhr“ sowieso schon durcheinander. Natürlich sind solche Übereinkünfte notwendig für eine funktionierende Gesellschaft, Gehirn und Körper ticken aber eben manchmal anders als die gemeinschaftliche Stechuhr. Vor allem Eulentypen wie ich stehen dann häufig vor dem Problem, „vor der Zeit“ schlafen und aufstehen und auch abseits des körperlichen Hungers essen zu MÜSSEN, um einen Terminplan einzuhalten. Dieses Phänomen kann vor allem im Schichtdienst und auf Feiern aber durchaus auch „Lerchen“ und „Tauben“ treffen.
Essen ohne wirklichen Hunger macht niemals satt – es füllt den Magen nur übermäßig und führt oftmals zu späterem Heißhunger, weil die Verdauungskreisläufe durcheinandergekommen sind. Eine weitere logische Folge bei ständigem Essen gegen den eigenen Chronotyp: Man sammelt unnötig leere Kalorien, speichert sie als Fett und nimmt zu. Meine persönliche Lösung für das Chronotyp-Problem ist übrigens inzwischen, den Glaubenssatz loszulassen, ein Mensch müsse sofort nach dem Aufstehen frühstücken. Bullshit, beschwert sich dann auch mein Magen, der außer dem obligatorischen Kaffee um sechs Uhr morgens noch nichts „reinlässt“. Ich meine, hallo, ich bin eine Eule und dann soll ich essen, bevor ich überhaupt richtig wach bin? Sonst noch irgendwelche Wünsche?
Zusammenfassend kann man jedoch feststellen: Viel Zeit zum Kochen, Essen und Genießen bleibt da nicht. Und erst recht nicht dafür, sich im Supermarkt die Zutatenlisten auf gigantischen Verpackungen durchzulesen. Zeit spielt für einen achtsamen und bewussten Umgang mit Nahrung jedoch eine entscheidende Rolle. Um sich bewusst für Mahlzeiten und Zutaten zu entscheiden – selbst, wenn diese vielleicht aus der Tiefkühltruhe oder aus einer Dose kommen. Für die Nahrungszubereitung , wenn man Lust und Motivation zum Kochen und Backen verspürt. Und schließlich für den achtsamen Genuss der zubereiteten Mahlzeit, gern in fröhlicher und geselliger Runde.
Denn Essen, das vor allem in Form leerer Kalorien nebenbei „reingeschoben“ wird, nehmen Gehirn und Verdauungstrakt häufig nicht als sättigende Mahlzeit wahr. Die Folge: Mangels echter körperlicher Sättigungssignale meldet sich „der kleine Hunger“ schon nach kurzer Zeit wieder und wir essen schlicht zu oft, zu zuckerhaltig, zu fettig und zu viel. Insofern kann auch die ziemlich ausgeuferte „To-Go“-Esskultur ein Faktor sein, der kollektives Übergewicht begünstigt.
Fünfte Säule: Werbung und Marketing
„Die Schokolade mit der Extraportion Milch!“-„Nimm 2- das gesunde Fruchtgummi“- „Mit [was auch immer]-Milchsäuren – regulieren Sie Ihren Darm mit einem Schluck“ – „Die Extraportion Obst in einem Riegel“ …. Wir werden ständig mit Lebensmittelwerbung berieselt. Und wenn es „nur“ die tägliche Angebotswerbung diverser Supermarktketten im Radio auf dem Weg zu Arbeit, Schule oder Kita ist. Neben dem inzwischen inflationären „Greenwashing“ eigentlich stark klimaschädlicher Produkte ist über die Jahre eine weitere Werbestrategie auf den Plan getreten, die ich hier frei heraus als „Health Bluff“ bezeichnen möchte.
Warum? Weil bestimmte stark verarbeitete Produkte wegen einzelner Inhaltsstoffe oder Eigenschaften als „besonders gesund“ beworben werden, um dem Gewissen des Konsumenten zu schmeicheln. Dies gilt besonders, wenn Kinder als Zielgruppe im Spiel sind. Schaut man jedoch genauer auf die Inhaltsstoffliste auf der Verpackung, bemerkt man deutlich den Bluff. Denn die Menschen in den Marketingabteilungen von Nahrungsmittelkonzernen wissen natürlich, dass die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher sowieso keine Zeit haben, um Zutatenlisten zu checken. Und sie wissen auch, wie wirkungsvoll Kinder quengeln können, wenn sie einen Schokoriegel oder gezuckerten Fruchtsmoothie haben wollen.
Marketingexperten kennen eben ihre Zielgruppen und verstehen ihr Handwerk. Das ist ihnen prinzipiell erst einmal nicht vorzuwerfen – es ist ihr Job. Ein „ehrlicherer“ Umgang mit Zucker, Fett und anderen Inhaltsstoffen wäre dennoch hilfreich für eine informierte, freie Entscheidung für oder gegen ein Produkt seitens des „Normalverbrauchers“. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass Lebensmittelkonzerne ohne politischen und wirtschaftlichen Druck „freiwillige Selbstverpflichtungen“ einhalten. Denn in einer kapitalistischen Gesellschaft gilt nach wie vor ein wichtiges Naturgesetz: Profit first.
Sechste Säule: wirtschaftliche Interessen
Eine kurze Gewissensfrage: Würdet plötzlich und ohne weitere Trümpfe im Ärmel eurem Unternehmen alle Standbeine entziehen, indem ihr euren Kunden da draußen die Wahrheit sagt? Nein? Eben. Das wollen die „Big Five“ der Lebensmittelindustrie auch nicht. Was aus unternehmerischer Sicht sicher nachvollziehbar ist, in Hinblick auf die kollektive Gesundheit und die entsprechende gesellschaftliche Verantwortung jedoch eine ziemliche Schweinerei. Ohne natürlich die armen Schweine beleidigen zu wollen, die nichts dafür können.
Money makes the world go round – also sind Greenwashing, der große Health Bluff und so manche diskrete Schummelei bei der Anzeigepflicht von Inhaltsstoffen sowie Herstellungsbedingungen an der Tagesordnung. Man will ja schließlich das Vertrauen einer Kundenzielgruppe nicht verlieren, die inzwischen mehr als je zuvor auf Klimaschutz, Fairtrade und Tierwohl schaut. Man könnte an mancher Stelle recht überspitzt sagen: Augen auf beim Nahrungskauf. Glaube keinem Siegel, das du nicht selbst gefälscht hast! Ganz so einfach sind die wirtschaftlichen Zusammenhänge unter Lobbyisten natürlich nicht. Aber wenn selbst ehemalige Mitglieder der ASNS wie Marion Nestle den Umgang dieser staatlichen Behörde mit Konzernlobbyismus kritisiert, kann es sich kaum nur um eine Verschwörungstheorie handeln.
Es ist also davon auszugehen, dass in sehr vielen Produkten nicht mit Inhaltsstoffen gearbeitet wird, die einen echten, gesunden „Nährwert“ bieten. Dieser Fakt in Bezug auf Fast Food ist ein offenes Geheimnis. Welche künstlichen Inhaltsstoffe wirklich auf Verpackungen ausgeschrieben werden (müssen) und welche gar nicht erwähnt werden … nun, das wissen wohl nur die Hersteller selbst. Es wurden sogar manchmal Aromen in Snacks nachgewiesen, die das Produkt so „besonders“ im Geschmack machen sollen, dass man immer wieder zugreifen will. Das ist keineswegs illegal und etwas, worüber man nicht sprechen darf. Oder, wie Lord Beckett in „Fluch der Karibik“ sagen würde: „Das ist nichts Persönliches, Jack. Es geht nur ums Geschäft“.
Auf der gesundheitlichen Seite macht übrigens oft die Dosis das Gift. Man wird sicherlich nicht gleich schwer übergewichtig, weil man hin und wieder Fertigprodukte zu sich nimmt. Sie sollten nur eben nicht den gesamten Speiseplan bestimmen. Sprich: Gewöhnt sich das Belohnungszentrum zu früh und zu regelmäßig an diese Art Stimulus, wirken andere Nahrungsmittel, die uns sonst besser tun würden,im Vergleich unattraktiv. Dies bedeutet wiederum, dass eine gewisse Art von „Fehlprogrammierung“ in unserer Firmware stattfindet, welche nur schwierig (wenn auch nicht unmöglich) umkehrbar wird.
Siebte Säule: Nahrungskolonialismus
Dass die „Adipositas-Epidemie“ mit möglichen Gesundheitsrisiken und steigenden Kosten für das Gesundheitssystem in Nordamerika und Westeuropa ein zentrales Thema der Gesundheitspolitik geworden ist, steht außer Frage. Neu und ein wenig überraschend kam es für weltweite Gesundheitsbehörden jedoch, dass die „Obesity Rate“ innerhalb weniger Jahre auch in südamerikanischen Ländern wie Mexiko sprunghaft angestiegen war. Ein möglicher Grund lässt sich auch hier in der strategischen Erschließung neuer Zielgruppen durch Fast-Food-Konzerne finden, die wirtschaftliche Schwachstellen, Gebäudeleerstände und ähnliches jenseits der „American Border“ als neue Einnahmequellen nutzen. Gleiches gilt für Lebensmittelkonzerne, die nun mit Wucht auf die Märkte in Schwellenländern drängen und mit billig hergestellten, aber nährstoffarmen Produkten die Essenskultur in der jeweiligen Zielregion mehr oder minder bewusst unterwandern. Würde es sich hier um eine politische „feindliche Übernahme“ handeln, könnte man von einem neuartigen „Nahrungskolonialismus“ sprechen.
In der Praxis erhöhen unternehmerisch nachvollziehbare Schritte hier also wieder das Risiko kollektiver Gesundheitsschäden. Übrigens nicht nur in Bezug auf das Körpergewicht und die Störung natürlicher Sättigungskreisläufe, sondern in vielerlei Hinsicht. „Du bist, was du isst“ hat durchaus einen wahren Kern. Denn wer nur scheinbar verwertbare Nährstoffe zu sich nimmt, davon aber viel zu viele, wird sich am Ende so schlapp, dauerhungrig und energielos fühlen wie jemand, der generell nur einseitige oder zu wenig Nahrung zur Verfügung hat. Für einen ausgeglichenen Kreislauf aus Hunger und Sättigung braucht es aber einen guten Mittelweg zwischen „zu hungrig“ und „komplett überfüttert“.
„Wertvolle“ Ernährung – eine gemeinschaftliche Herausforderung!
Bitte versteht mich nicht falsch – ich möchte hier nicht mit dem moralischen Finger auf alle möglichen Leute zeigen. Es ist sicherlich auch möglich, dass Nahrungskonzerne ihre Strategien zu einer „wertvollen Ernährung für alle“ hin verschieben und ihre gesellschaftliche Verantwortung anerkennen. Gleiches gilt für Forschende, deren Unbestechlichkeit ein wichtiges Kriterium für ehrliche Studien ist, Gesundheitsministerien weltweit und natürlich am Ende auch für Konsumentinnen und Konsumenten.
Es kann und sollte einfach nicht sein, dass viele Menschen an Hunger leiden oder sterben, während andere in ein dauerhaftes Fresskoma fallen, ohne je wirklich satt zu werden, ihre eigene Gesundheit ruinieren und sich nebenbei in Massenverschwendung üben. Um diese globale Ernährungskrise mit zwei extremen Polen zu überwinden, braucht es die bewussten Entscheidungen jedes Menschen – von der Entscheidung für naturbelassene Fairtrade-Produkte über zuverlässige Nutriscores und Biosiegel bis hin zu „gesünderen“ Fast-Food-Alternativen. Und diese Pflicht schließt natürlich auch mich als Endkundin und Mitmensch mit ein. Im Grunde jeden, soweit es die alltäglichen Ressourcen an Zeit, Geld und Wissen eben zulassen. Denn wenn wir ein Stück weit „sind, was wir essen“, dann wollen wir doch auch unseren eigenen Wert und unseren Körper schätzen und erhalten, oder?
Kleiner Tipp: Weitere Dokus zum Thema findet ihr unter dem Stichwort "Obesity" oder "arte Ernährung" auf Youtube!
Ups, dieser Artikel ist dann doch etwas … ausführlicher geworden als geplant ;). Moment, was, du bist immer noch hier? Nein, ich meine das nicht negativ, ich will dich auch gar nicht von meinem Blog vertreiben. Im Gegenteil – ich freue mich über dein Interesse an einem fast neun Seiten langen Blogartikel. Ich bin nur ein wenig überrascht, sagt man der menschlichen Spezies doch nach, inzwischen die Aufmerksamkeitsspanne eines durchschnittlich gebildeten Goldfisches zu haben. Kurzum, ich fühle mich geehrt, dass du mir so lange „zugehört“ hast. Natürlich hoffe ich, dass du etwas aus diesem Artikel für dich mitnehmen konntest und einen Mehrwert daraus ziehen konntest. Die Kommentarspalte befindet sich übrigens unter dem Artikel. Weiterlesen und Teilen unbedingt erwünscht! :)
Liebe Grüße
Cat
danke für deinen spannenden Artikel, in dem du das Thema von so vielen verschiedenen Seiten beleuchtet hast. Ich finde es immer wieder erschreckend zu merken, dass so viele Menschen es heutzutage verlernt haben, gesund zu leben: morgens mit dem Auto zur Arbeit, dort gibt es dann mittags fettiges Essen in der Kantine und nachmittags noch Kuchen, bevor man dann später vom Schreibtisch aufsteht, nach Hause fährt und dort fernsehen sieht - das ist leider alles andere als ungewöhnlich.
Zudem ist es leider auch nicht besonders angesagt, wenn man sich dem zu sehr abwendet. Ich wurde schon oft schräg angeschaut, weil ich auch bei ungemütlichem Wetter mit dem Fahrrad fahre und einen Bogen und Kantinen-Essen und Kuchen mache. Ich musste auch erst lernen, dazu zu stehen und meinen Ansätzen treu…
Danke dafür. Sehr aufschlussreich wie du die verschiedenen Säulen beleuchtest. Ich mag deinen Weitblick und wie du alles miteinander verbindest.