Als Frau im oberen Bereich verfügbarer Konfektionsgrößen "darf" man sich bekanntlich eine Menge gut gemeinte Diät- und Ernährungstipps anhören. Gleiches gilt selbstredend für den Inhalt des Kleiderschranks. Auffällig gemustert, körpernah oder in Knallfarben? "Oh nein, trag das bloß nicht!", beten einem Menschen in Ratgeberbeiträgen oder auch im eigenen Umfeld dann ständig vor. Was all diesen "Modeexperten" wahrscheinlich nicht gefallen wird: Es ist mir wirklich piepegal geworden.
Lange habe ich mich nicht getraut, wirklich leuchtende Farben zu tragen. Vor allem nicht „untenrum“, wo mir jeder meine Problemzonen bescheinigt hat. Und niemals hätte ich mich „früher“ getraut, eine Hose in sogenannter „großer Größe“ in irgendeiner anderen Farbe als Beige, Grau, Schwarz oder Jeansblau anzuziehen. Wann habe ich eigentlich damit angefangen, mir so viele Gedanken um das „Kaschieren“ und „Umspielen“ bestimmter, als nicht proportional empfundener Körperteile zu machen? Hier muss ich in meine frühe Jugend zurückgehen, zu meiner ersten „Bravo Girl“. Ich las sie mit 12 mit einer Freundin in deren Zimmer. „Was dein Figurtyp über deinen Charakter aussagt“. Ergo: Zeige mir deinen Po, und ich sage dir, wer du bist? Heute würde ich denken, totaler Bullshit. Jedenfalls war ich „die Ernährerin“ – fürsorglich, hilfsbereit, eher ruhig und bodenständig, mit eher langsamen Bewegungen, aber beharrlich bei der Sache. Vieles davon stimmt – aber was das nun mit meiner Hüftbreite zu tun haben soll, habe ich bis heute nicht begriffen.
Nach den Psychotests kamen Modetipps – oder eher, diese kamen dazu. Fazit: Ich habe eine A-Figur. Also keine 1A-Figur, sondern eine, die unten kräftiger ist als oben. Auch mein Umfeld mischte kräftig mit, wenn es darum ging, mir zu sagen, was „vorteilhaft“ an mir aussieht und was nicht. Es ist erstaunlich, wie sich die immer gleichen Themen und Tipps über Jahrzehnte in Mädchen- und Frauenmedien wiederholen. Und wie man mit der Zeit immer deutlicher glaubt, dass diese „Wahrheit“ über den eigenen Körper die einzig wahre sei.
"Vorteilhaft" - aber für wen eigentlich?
Kaum ein Kleidungskauf mit der Familie, bei dem nicht kritisch beäugt wurde, ob ein Oberteil „lang genug“ (ergo: über den Po gehend) oder die Hose „hoch genug“ (Bund kurz unter dem Bauchnabel) ist. Oder ob sich auch auch „nichts abzeichnet“ oder „falsch betont“ wird. Kurz: Einkaufen mit Menschen, die ständig von ihrem Diät-Ich geleitet werden, und bei Verkäuferinnen, die dem eigenen Diät-Ich noch Aufwind geben, ist vor allem verdammt anstrengend. Und am Ende oftmals frustrierend, weil man vielleicht doch nicht die Teile mitgenommen hat, die einem wirklich gut gefallen haben.
Doch auch im Alltag umgaben mich die ständigen mehr oder wenigen subtilen Hinweise andauernd. Ein Schlüsselmoment war, als ich als 17-jähriger Teenager mit meiner Mum auf Schüleraustauschfahrt in England unterwegs war. Ich sah ein Mädchen von der englischen Schule, das eine knallrote Jeans trug, ein echter Farbklecks im Schwarz-Grau-Blau-Einerlei, das ich bei Jeans eben so kannte. „Cool, so eine Hose möchte ich auch mal haben“, sagte ich leise zu meiner Mum, die schon zur Bühne sah, wo gleich ein Chor auftreten sollte. Als hätte ich es wissen müssen, seufzte sie und sah mich verständnislos an. „Das sieht an unsereinem verdammt blöd aus. Rote Hosen sind nur was für schlanke Frauen.“
Damit war das Thema „auffällige Kleidung“ auch erst einmal wieder Geschichte. Denn ich dachte mir bei fast jedem auffälligen oder besonders körpernah geschnittenen Teil: „Das ist nur für schlanke Frauen“- und entschied mich für das Bewährte, das eine „Safe Choice“ für mich war. Outfits, in denen ich niemandem eine Angriffsfläche für blöde Kommentare und beißende Kritik gab. Kritisiert wurde mein Äußeres dennoch sehr häufig, aus unterschiedlichen Gründen.
Ein bisschen "schamloser" dank HAES
Im Wintersemester 2011/ 2012 kam ich mit der „Health at Every Size”- Philosophie in einem Kulturwissenschaftsseminar in Kontakt. Die amerikanische Gastdozentin zeigte uns eine Doku über Körperbilder, Medien und Bodyshaming. Ich war sofort gefesselt von dem Themenbereich und dem breiten wissenschaftlichen Spektrum, das HAES im Hintergrund abdeckt. Ich schrieb meine Seminararbeit darüber – mit Note 1,3 übrigens – und veränderte meine Haltung. Zu dieser Zeit befand ich mich in einer Phase, in der ich abnehmen musste, um bei einer Berufsunfähigkeitsversicherung nicht zu viele Ausschlussgründe in der Gesundheitsprüfung vorzuweisen. Doch körperbedingte, strukturelle Diskriminierung von Menschen in vielen Lebensbereichen ist wirklich ein HAES- Ansatz, der einen eigenen Artikel verdient.
Ich lernte jedenfalls in dieser Zeit auch viel über Plus-Size-Mode, „ungeschriebene Regeln“ bei der Wahl der eigenen Kleidung. Hier kommt die Theorie hinter dem ganzen Lärm um „figurgerechte“ und „vorteilhafte“ Kleidung inklusive formender Unterwäsche, ein wenig überspitzt. Wenn man diese abscheuliche und rotzfreche Verschiedenheit menschlicher Körper mit all ihren „Problemzonen“ schon nicht ausschalten kann, sollen sich die „Unnormalen“ zumindest gefälligst nicht in den Vordergrund drängen. Lieber sollen sie ihre Abweichungen von gängigen Schönheitsnormen verdecken, um ihr Umfeld nicht optisch zu beleidigen. Wo käme man denn hin, wenn sich jeder frei und nach dem eigenen Geschmack gekleidet in der Öffentlichkeit bewegen dürfte? Hilfe, wo ist mein Büßergewand aus Sackleinen? Ironie off.
Respekt ist keine Einbahnstraße!
Fairerweise muss ich zugeben, dass ich auch nicht immer frei von Vorurteilen war. Oft fühlte ich mich anderen überlegen, wenn ich mit Kleidung aus meiner „Komfortzone“ aus meiner Sicht „vorteilhafter“ angezogen war als die ebenso kräftige Dame, die ihre Beine in kurze Jeansshorts und die großen Brüste in eine neonfarbene Bluse steckte. Touché, auch ich war in Gedanken lange manchmal „Arschloch“. Eine fiese Projektion eigener Selbstzweifel auf andere Personen, die nichts dafür konnten. Durch die Seminararbeit und die weitere Beschäftigung mit dem Thema “Körperbild“ begriff ich nach und nach, dass ich es schaffen würde, aus einem Kreislauf aus Beeinflussung und Selbstunsicherheit auszubrechen.
Ich wollte es anders machen als manche Menschen in meinem Umfeld und in Social Media, die auch nach Jahrzehnten noch in ihrer Denkweise über eigene und fremde Körper verhaftet bieiben würden. Ich kann andere Leute nicht ändern, das war mir immer klar. Aber ich konnte zumindest mein eigenes Fühlen, Denken und Handeln hinterfragen und anpassen. Und so begann ich, mir unter anderem deutliche Grenzen dabei zu setzen, fremde Menschen wegen ihrer Kleidung zu „verurteilen“. Und nebenbei freundlicher zu mir selbst zu werden. Dass ich sehr kurze Shorts, Crop-Tops und Blümchenmuster an mir selbst nicht mag, gibt mir nicht das Recht, anderen Menschen in ihre Entscheidungen hineinzupfuschen. Andersherum müssen aber auch alle mit meinen Katzen-Mottoshirts und meiner Vorliebe für an Spitzendetails an Baumwollshirts klarkommen. Klingt nach einem fairen Deal, oder?
Flucht in die modische Komfortzone
Doch der innere Esel im Kopf ist stur und verfällt gern in alte Muster, wenn er erst einmal wieder seinen Stall erblickt hat. Nach einer sehr „befreiten“ Phase holte mich meine Unsicherheit wieder ein. „Auffälliges“ verschwand wieder ganz hinten im Schrank, dauernd schämte ich mich für irgendetwas an meinem Körper. Wieder befeuerte mein Umfeld die Zweifel mit Ratschlägen, Kommentaren und Kritik, die durch Mark und Bein ging. Speziell während meiner zwei Schwangerschaften waren Kleiderwahl und Arztwaage immer Faktoren, die Unwohlsein auslösten. Die Kilos, die ich erfolgreich nach der ersten Schwangerschaft dank einer doch recht akzeptablen Ernährungsumstellung, körperlicher Arbeit und Sport verloren hatte, kamen mit der zweiten Schwangerschaft natürlich zurück.
Zusätzlich zu einer weiteren „Low Carb Light"- Umstellung versuchte ich das Abnehmen später sogar mit einem Medikament, das Sättigung erzeugen soll, damit man weniger isst. Natürlich ein Nahrungsergänzungsmittel, das sogar in "normalen" Apotheken erhältlich war. Ad hoc umbringen wollte ich mich bei diesem Abnehmexperiment nun auch wieder nicht, so seltsam mir diese Schnapsidee heute auch vorkommt. Nach sieben Monaten passte ich übrigens wieder in die ersten „alten“ Klamotten aus nicht-schwangeren Zeiten und freute mich. Die Angst vorm Auffallen saß aber immer noch zu tief, um öfter mal die „Safe Choice“ im Schrank zu lassen und etwas Neues auszuprobieren.
Intuitive Ernährung und Mentaltraining als Gamechanger
Wirklich modisch ganz ich selbst zu sein klappt erst wieder, seit ich den Dreh beim Intuitiven Essen bekam und mein Esel sich hat überzeugen lassen, einen anderen Trampelpfad einzuschlagen. Ganz nach dem Motto "Erst annehmen, dann abnehmen" hat es ironischerwesise nebenbei ziemlich mühelos mit dem erneuten Abnehmen geklappt. Und ich bin da erst am Anfang des Weges, gehe es gelassenan. „Wear whatever the F*** you want!“, steht übrigens als Tipp in einem der Bücher für meine damalige Seminararbeit. Und genau das habe ich vor – auch wenn es immer noch schwierig ist, alte Zweifel abzuschütteln.
Immerhn versinke ich nicht mehr vor Scham im Boden, wenn das Oberteil den Po nicht ganz bedeckt. Wenn das Lieblingsshirt eine Aufschrift in Neongelb auf Brusthöhe hat, ist das eben so. Selbst im Badeanzug denke ich nicht mehr andauernd über meine Figur nach. Und wenn mich die Lust auf Farbe packt, ziehe ich sogar eine rote Hose dazu an. So eine, die „an unsereinem blöd aussieht und die nur dünne Frauen tragen können“. Wenn ich jemandem optisch damit zu viel zumute, tut es mir Leid … Nee, so gar nicht. Sorry, not sorry. Ich sag ja auch niemandem, dass ich sein Hemd für mich viel zu kleinkariert fände. Je nachdem, wie ich mich fühle, darf das Outfit elegant oder sportlich, dezent oder „knallig“ sein – denn wer sollte es einem verbieten?
Comments