Neue Ufer, neue Freunde? So ganz überzeugt war ich von diesem Gedanken früher nicht. Bis mich das Leben dazu zwang, über meinen Schatten zu springen und das Vertrauen in fremde Menschen wiederzugewinnen. Eine kurze Geschichte über Vertrauensbrüche, "Freinde"und die Kraft, neu anzufangen.
Balaton mit Freundinnen – das klingt wie Musik in den Ohren eines Teenagers. Der Ortsname allein verspricht Sonne, Flirts, Spaß und Strandpartys bis in die Morgenstunden. Das, was einem die Musikvideos auf MTV und Viva eben versprechen. Auch meine Schulfreundinnen und ich wollen dieses Abenteuer in jenem Jahr wagen. Keine CVJM-Zeltfreizeit an der Nordsee mehr und auch keine Reiterferien, sondern eine Busreise in den Süden mit einem bekannten Anbieter für Jugendreisen. Unsere Eltern haben zugestimmt, nun müssen wir nur noch das richtige Ziel und den richtigen Zeitpunkt finden. Dafür habe ich die Kataloge aus dem Reisebüro besorgt und alle können sich Gedanken machen. Es soll Ungarn werden, genauer gesagt eine Partyhochburg am Balaton. Und ich bin schon innerlich so darauf eingestimmt, dass ich es bereue, die dortige Landessprache nicht zu beherrschen. Was soll’s, viele sprechen dort Deutsch – und mit Englisch bin ich bisher immer über die Runden gekommen.
Ein geplatzter Sommertraum
An jenem Frühlingsmorgen, an dem mein Vertrauen in meine Clique zerbrechen wird und ein Urlaubstraum platzt, komme ich nichtsahnend in die Schule. In der Pause sehe ich dann die Mädchen, mit denen ich zusammen verreisen möchte. Sie wirken aufgekratzt, sprechen darüber, dass sie sich noch neue Sachen kaufen wollen. „Hi, was ist denn hier los? Neue Sachen … wofür?“, frage ich vorsichtig nach und beiße in mein Pausenbrot. Sportunterricht macht hungrig. Auf einmal wird es für einen Moment still, eine drückende, bedrohliche Stille, die ich aus anderen Kontexten kenne. Eine Stille, die wie ein Alarm schrillt und nichts Gutes verheißt. „Balaton. Wir haben vorgestern die Busreise gebucht“, erklärt dann doch eine in der Runde.
Ich verschlucke mich fast an meinem Brot, lege es reflexartig wieder in die Dose zurück. „Ihr habt … gebucht? Wann?“ Ich denke, ich höre nicht richtig. Hätten die verdammt nochmal nicht den Zeitraum mit mir absprechen können, oder Moment, sie haben doch nicht etwa …. „Ihr habt ohne mich gebucht?“, hake ich dann ziemlich fassungslos nach. „Naja“, räuspert sich Beate* (Name geändert) verlegen. „Du hattest ja bei dem Treffen keine Zeit und wir haben uns schon erkundigt. Es gab leider für die Freizeit nicht mehr genug Plätze … tut uns Leid.“ Katja* ergänzt: „Wir mussten schnell sein. Sonst wäre unser ganzer Urlaub ins Wasser gefallen. Ist nicht gegen dich gemeint.“ Wie, was, nicht gegen mich? Echt, verarschen kann ich mich allein. Mein alarmierter Blick wandert von Beate* über Katja* zu der ganzen Runde.
„Ihr hättet einfach vorher mal anrufen können und wir hätten uns eine andere Freizeit gesucht“, bringe ich schließlich recht fassungslos hervor. Dieser Vertrauensbruch sitzt wie ein Tiefschlag in die Magengrube. Die Menschen, die ich für meine Freundinnen hielt, haben mich ausgebootet, wie es ihnen gerade passte. Mir wird schwindelig und ich widerstehe nur knapp der Versuchung, vor Enttäuschung loszuheulen. Es fühlt sich an, als brächen die Wände der Pausenhalle um mich herum ein. Schließlich, nach ein paar gefühlt endlosen Augenblicken, schüttele ich nur noch einmal vollkommen ungläubig meinen Kopf und verlasse die Pausenhalle in Richtung Hof. Hunger habe ich natürlich keinen mehr, aber ich brauche dringend Luft. Denn es kommt mir so vor, als würde die aufkeimende Wut über diesen „Hochverrat“ mir den Hals zuschnüren. Ich weiß nicht mehr, wie mein jüngeres Ich diesen Schultag durchgestanden hat, aber irgendwie ging es.
Ausgebootet: Freundschaft über Bord
Zu Hause beim Abendessen fragt mich mein Vater: „Sag mal, weißt du nun schon, wann ihr nach Ungarn fahren wollt?“ Die Frage fühlt sich an wie ein bohrendes Messer in der Brust, aber er kann ja nichts dafür. Ich habe wohl keine Wahl, als mit der beschämenden Wahrheit herauszurücken. „Ab der dritten Ferienwoche …. Und … die anderen fahren. Ich nicht. Sie haben einfach ohne mich gebucht.“ In diesem Moment bricht sich alles Bahn, was ich vorher in einem eisernen Käfig eingesperrt hatte. Die Wut, die Enttäuschung und die Trauer über diese Clique, die mich einfach so mal wieder ausschließt. Nachdem einfach keine Tränen mehr fließen wollen, fragt mich mein Vater: „Und … was willst du jetzt machen?“. Ich seufze und schweige einen Moment. In ein Mauseloch verkriechen? Auswandern … ja das wäre eine Idee. Oder vielleicht gleich eine Überdosis … Moment, nein, die Idee ist dann doch ziemlich beschissen. Es gibt immerhin doch noch Menschen auf dieser Welt, die mich vermissen würden. Und eigentlich ist man mit 15 noch zu jung, um ins Gras zu beißen.
„Ich werde wohl zu Hause bleiben … mit dem Nachbarshund gehen … Ferienspiele vielleicht, oder öfter Zeitungen austragen“, antworte ich dann doch ziemlich stumpf auf die Frage. Alles in mir fühlt sich taub an, als könne ich nichts mehr spüren. Eine Mauer, die mich schützt. „Das kommt gar nicht in Frage“, schaltet sich da meine Mum ziemlich entschieden ein. „Du wirst hier sicher nicht zu Hause hängen, während sich diese alten Ziegen in der Sonne bräunen. Wir finden schon eine Lösung.“ Ich gucke sie ein wenig ratlos an. An welche Art Lösung denkt sie? Mein Dad steht auf und holt das Prospekt vom CVJM. „Wir suchen nun eine Freizeit aus dem Heft aus und melden dich dafür an … Würde ich sagen“, schlägt er vor. Ich sehe ihn ein wenig angsterfüllt an. „Aber … aber … ich kann doch nicht allein auf eine Freizeit …. Da kenne ich doch keinen.“ Mama erkennt meine Notlage, hat aber ein unschlagbares Argument. „Na … wenn du hier allein zu Hause bleibst, bist du doch genauso allein. Willst du das diesen alten Zicken wirklich gönnen?“ Wo sie Recht hat … „Na gut. Ich schaue es mir an“, willige ich schließlich ein. Finde eine Fahrt nach Schweden, die mir zusagt. Es ist noch ein Platz frei, Dad meldet mich an, bevor ich es mir anders überlegen kann.
Challenge accepted!
Ich weiß nicht, wie ich die letzten Woche dieses Schuljahrs überlebt habe, ohne irgendjemanden kommentarlos zu ermorden, der von neuen Bikinis und Sonnenbrillen für den Goldstrand erzählt. Ich bin gut darin geworden, mein Herz mit Mauern zu umgeben, es zu schützen und so viele Gefühle kaltzustellen, bis ich mich in meiner Umgebung sicher fühle. Schließlich kommen die Ferien, endlich wieder ein Schuljahr ohne nennenswerte Noteneinbrüche überstanden. Und noch bevor die anderen Mädchen im Bus nach Ungarn sitzen, werde ich bereits von meinen Eltern zum Treffpunkt für die Schwedenreise gebracht. Mir ist mulmig zumute. Fremde Gruppen und ich, das ist immer ein Wagnis und dann auch noch in einem fremden Land? Bin ich überhaupt noch fähig, unbeschwert Teil einer Gruppe zu sein? In Gedanken verwechsele ich beim Einladen der Koffer fast meinen mit dem eines anderen Mädchens am Bus. „Ups … tschuldigung“, murmele ich ein wenig verlegen, na das fängt ja gut an.
Aber das Mädchen lacht nur. Sie ist in meinem Alter, blond und blauäugig. „Macht ja nix. Die Koffer sehen wirklich fast gleich aus. Nur das Namensschild nicht. Ich bin Johanna*“, stellt sie sich dann vor. Ich stelle mich auch vor. Dann werden wir aufgerufen, durchgezählt und sollen einsteigen. Letzte Gelegenheit, umzukehren, denke ich …. Aber ich will auch kein Feigling sein. Noch bevor ich zum Ladefach für die Koffer zurückrennen kann, steht Johanna* mit einer anderen Mitreisenden vor mir. „Reist du allein?“, fragt sie neugierig. Ich nicke und murmele etwas von schief gelaufener Ferienplanung. Stimmt ja auch – im weitesten Sinn. Johanna* lacht. „Haha, ja das passiert. Aber macht nichts, du kannst ja bei uns sitzen und wir können auch zusammen auf ein Zimmer gehen … Wenn du magst.“ Ich blinzele ein wenig und schüttele mich innerlich ein wenig ungläubig. Hat gerade von selbst jemand angeboten, ein Zimmer in der Jugendherberge mit mir zu teilen?
Ein schwedisches Sommermärchen
Irgendwie verwundert mich das, aber es macht mich auch glücklich. „Klar, gern“, sage ich dann. Ich drücke noch einmal Mama und Papa, steige mit meinem Rucksack in den Reisebus und nehme bei Johanna* und ihrer Freundin Platz. Dieser Sommer wird meinem jüngeren, innerlich komplett verunsicherten Ich beweisen, dass es durchaus „gruppentauglich“ ist und viel zu lange die Schuld an der miesen Situation in der eigenen Schule allein bei sich selbst gesucht hat. Es wird nach fröhlichen zwei Wochen mit dem neuen Selbstbewusstsein zurückkehren, dass die Welt größer ist und mehr bietet als Menschen und Gemeinschaften, die ihre Mitmenschen bewusst oder gedankenlos verletzen. Und es wird lernen, mutiger zu werden und neue Ziele anzustreben – notfalls allein. Doch all dies weiß es noch nicht, als es seinen Eltern aus dem Busfenster zuwinkt, während der Bus sich in Bewegung setzt.
Heute bin ich meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie mich von diesem „Alleingang“ überzeugt haben. Denn niemand verdient es, von seinen eigenen „Freunden“ schlecht behandelt zu werden. Manche Wege sind einsamer als andere, aber wenn man neue Begegnungen zulässt, öffnen sich immer Türen zu neuen Lebenswelten. Ein Sommer in Schweden – nicht in Ungarn – hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich selbst zu vertrauen und etwas Neues zu wagen, auch wenn gerade alle Ampeln scheinbar auf Rot stehen.
Die Beziehung zu einigen, wenn auch nicht allen Personen in diesem Zusammenhang hat sich übrigens danach über kurz oder lang wieder erholt und ist aus diesem Konflikt gewachsen. Zumindest für eine Weile, bis sich die Wege wieder trennten. Es gibt anscheinend immer wieder Abzweige auf dem Lebensweg, an denen jeder zeitweise in eine andere Richtung abbiegt. Das ist in Ordnung, weiß ich heute. Eine ganz schön fiese und gedankenlose Nummer war der "Fall Ungarn" aus meiner Sicht dennoch! Alles in allem bin ich jedoch auch für diese Erfahrung dankbar.
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