Ich habe lange Menschenmengen auf großen Plätzen und in geschlossenen Räumen gehasst, dabei beizeiten sogar Paniksymptome entwickelt. Sicher hat sich diese Form der „Raumangst“ mit der Zeit gebessert und ich habe wirksame Strategien entwickelt, um mich auf Großveranstaltungen und in unübersichtlichen Hallen voller Menschen zurechtzufinden. Beunruhigt bin ich oft dennoch, wenn ich zum Beispiel auf einer Großkirmes einen sehr belebten Platz allein überqueren muss und großes Gedränge herrscht – und auch dieses Unwohlsein hat seine Wurzeln.
Ich nehme euch mit zu meinem Teenager-Ich in der achten oder neunten Klasse. Unsere Klasse fährt zusammen mit der Klasse C nach Hannover zur EXPO 2000. Alle sind aufgeregt, selbst ich, die vor diesem Event wie immer die Letzte war, die als unfreiwillig Cliquenlose in eine Ausflugsgruppe aufgenommen wurde. Viel lieber wäre ich mit der Klasse B mitgefahren, in der sich meine Freundinnen befinden, aber ich habe inzwischen kapiert, dass dies einfach nicht geht. Klassenverband bleibt Klassenverband - selbst wenn einer manchmal am Rand stehen muss. Während der Hinfahrt lese ich und höre die meiste Zeit über Musik. Oder ich lausche den Gesprächen meiner Mitschüler, halte hier und da ein wenig Smalltalk, um mich zumindest ein wenig der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Ein Kampf, der seit ein oder zwei Jahren mein Leben bestimmt – und den ich bisher immer verloren habe.
Ich habe gelernt, mit der Einsamkeit inmitten einer Gruppe klarzukommen. All diese mehr oder weniger subtilen Beleidigungen, die Sticheleien, die Intrigen und die demonstrative Abschottung der Mädchencliquen mir gegenüber irgendwie zu ertragen. Habe mir eine „Parallelwelt“ aus Vereinssport und Musikstunden aufgebaut, die mich Tag für Tag, Woche für Woche aufrecht hält. Aber bei Klassenfahrten jeder Art habe ich keine Wahl, ich muss durch das Haifischbecken möglichst unbeschadet durchschwimmen. Ich bin nicht blöd und ich habe einen guten Instinkt. Oft erahne ich schon vorher, wenn jemand versucht, mir eine Falle zu stellen. Ich bin ständig aufmerksam, hellwach für die Signale aus meinem Umfeld. Was den Schmerz, die tausend kleinen Nadelstiche, nicht gerade lindert, aber mich „überleben“ lässt.
Allein in der Menge
Nun also DIE weltweite Attraktion des neuen Milleniums – EXPO 2000. Ein unübersichtlicher, riesiger Komplex aus Messehallen, Pavillons und Gängen. Ich traue meinen Klassenkameraden generell nicht mehr viel Empathie zu, aber zumindest so viel Anstand und Respekt, mich hier nicht bloßzustellen und an den Rand zu schubsen. Na ihr ahnt es – falsch gedacht! Eigentlich lief bisher alles friedlich. Wir hatten uns auch ein wenig darüber ausgetauscht, wer welche Pavillons ansehen möchte. Nach der Ankunft in der ersten Messehalle bitte ich meine Gruppe, kurz zu warten – ich muss mal aufs Klo. Die Schlange ist lang, es dauert also einige Minuten, bis ich wieder rauskomme. Als ich die Waschräume verlasse, sehe ich die Menschen in Scharen vorbeirauschen, höre ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr – und ich bin allein.
Panik steigt in mir auf, mir wird schwindelig und ich muss mich an die Wand lehnen, um diese Tatsache erst einmal zu erfassen. „Das muss ein Irrtum sein“, versuche ich mir einzureden, „Vermutlich haben sie einfach etwas falsch verstanden“. Doch tief im Herzen weiß ich, dass das nicht stimmt. Dass es eine Lüge ist, mit der ich mich selbst davor schütze, jetzt und hier heulend zusammenzubrechen, allein in diesem Gewirr von Menschen, Stimmen, Gerüchen und Geräuschen. Ohne Handy, ohne Plan, ohne inneren Kompass, der mir sagt, wohin ich laufen muss, um bekannte Gesichter oder gar die mitgereisten Lehrkräfte wiederzufinden. „Halte die Augen offen, denk nach“, ermahnt mich mein innerer Feldwebel - die innere Stimme, die mich immer wieder zwingt, mich auch in den unmöglichsten Situationen wieder aufzuraffen.
Ich gehe ein Stück weiter am Rand der Halle entlang und entdecke tatsächlich eine andere Gruppe aus unserer Klasse. „Bist du allein unterwegs?“, fragt mich Jenny* (Name geändert) scheinbar verdutzt, „Wo ist denn deine Gruppe?“. Ich schaue in die Runde vor mir. Jenny*, Sandra*, Katrin*und Jolanda*. Eine der verschworensten Cliquen in unserer Klasse, Reiterfreundinnen und Lästerschwestern. „Eigentlich … wollte ich euch gerade das Gleiche fragen. Also ob ihr sie gesehen habt. Ich war nur kurz auf dem Klo, danach habe ich keinen mehr gesehen.“ Katrin* schaut ein wenig ratlos und schüttelt dann den Kopf. „Nee, leider habe ich sie nicht gesehen.“
Wie ich solche Situationen hasse – aber ich muss diese Frage nun stellen. „Kann ich vielleicht … ein bisschen bei euch mitkommen, bis ich sie wiedergefunden habe?“. Allein auf dem riesigen Gelände – da bekomme ich schlicht Panik, mich zu verlaufen! „Nee sorry … ich meine … deine Gruppe sucht dich doch sicher auch gerade und vermisst dich wahrscheinlich. Wir müssen nun auch weiter“, druckst Jenny* herum. Also die höfliche Version von: Verpiss dich, du gehörst nicht zu uns! Also bleibe ich wieder allein zurück, als die vier sich abwenden. Mein kleiner Rest Selbstachtung, der von diesem Tag gerade übrig geblieben ist, verbietet mir, ihnen hinterherzulaufen wie ein verwirrter Hundewelpe.
Immer der inneren Stimme nach!
Aber – was jetzt? „Du brauchst einen Plan, bis du wieder Anschluss hast“, erklärt mir der innere Feldwebel. Mein Blick fällt auf den Infostand in der Nähe. Einen Plan bekomme ich da sicher her. Vielleicht finde ich ja meine ursprüngliche Gruppe – oder eine andere – wenn ich die Pavillons ablaufe, über die wir vorher gesprochen haben. Und vielleicht klärt sich dann auch das Missverständnis, an das meine verletzte, naive Teenagerseele gern noch glauben würde. Aber gerade mächtig Zweifel bekommt. Wenn nicht, sehe ich zumindest etwas und finde den Busparkplatz zur Abfahrt. Gut geht es mir bei alledem nicht - aber meine üblichen Verbündeten, Verstand und Instinkt, halten mich aufrecht und helfen mir, hier wieder herauszukommen.
Ich hole mir den Plan, kreuze mit einem Stift die Pavillons an, die ich und die anderen auf jeden Fall sehen wollten. Die Menschenmenge, das Geschubse und Gedränge und ich alleingelassen mittendrin, machen mir dennoch Angst.
„OK, du schaffst das“, stellt mein Feldwebel fest. „Schau dir die Symbole und Pfeile auf der Karte an. Und achte auf die Schilder“. Mein Orientierungssinn ist normalerweise unterirdisch schlecht – aber gerade habe ich keine andere Wahl als mir selbst zu vertrauen, wenn ich es bei den anderen schon nicht mehr kann. Gerüche, Stimmen, Musik und Bilder ziehen an mir vorbei, die Zeit vergeht vergleichsweise schnell. Mein Essensgeld brauche ich kaum - ich futtere mich weitgehend an den Probierständen der unterschiedlichen Länderpavillons durch. Mehrere Stunden allein auf dem riesigen Messegelände kommen mir einerseits extrem lang vor – andererseits bin ich auch zu abgelenkt von all den Eindrücken, um mich einfach in irgendeine Ecke zu setzen und zu heulen. Ich versuche, das Beste aus einem weiteren verkorksten Schulausflug zu machen. Verzweiflung und Traurigkeit weichen einer gewissen Resignation, was hatte ich schon erwartet? Dass meine „netten“ Mitschüler auf einmal so etwas wie Anstand und Feingefühl entwickeln? Haha, guter Witz.
Aber ich schaffe das auch ohne sie. Wie so oft. Ab jetzt konzentriere ich mich auf die spannenden Bilder, Klänge und Experimente, die die innere Leere zumindest übergangsweise füllen. Mein Zeitgefühl verlässt mich sogar eine Weile in dem ganzen Getümmel, bis ich wieder auf die Uhr schaue. „Verdammt“, fluche ich leise. Ich muss zurück zum Bus. Die Panik nimmt überhand. Wo ist dieser Ausgang und wie komme ich am schnellsten dorthin? „Guck auf die Schilder“, erinnert mich mein Feldwebel. „Und geh dahin, wo Exit steht“. Ich drehe den Plan ein wenig, schaue auf die Hinweisschilder mit den Symbolen. Messehalle für Messehalle kämpfe ich mich durch das Gewühl, bis ich das Symbol für „Bus“ erblicke. DA muss ich hin und zwar sofort. Bevor ich noch Ärger mit den Lehrern bekomme. Jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt, der Geist hellwach und ein wenig kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich fühle mich erschöpft und ausgelaugt vom Erlebten. Die Füße brennen, aber da hinten steht unser Reisebus. Ich habe mir das Logo gut gemerkt.
Whatever happens : Haltung bewahren!
Als ich einsteige, sind alle anderen schon da. Einige grinsen, manche tuscheln oder geben leichte Sticheleien von sich. Jutta*, der „Mittelpunkt“ meiner eigentlichen Gruppe, schaut mich scheinbar besorgt an. „Sag mal, wo WARST du denn? Wir haben dich tatsächlich in der Menge verloren, haben dich einfach nicht mehr gesehen. Bist du nun ganz allein hier zum Bus gekommen?“. Auch einige andere tun betroffen. „Hast du dich verlaufen?“, hakt nun auch meine Klassenlehrerin nach. „Die anderen meinten, du wärst auf einmal nicht mehr zu sehen gewesen.“
Mein Blick geht ausdruckslos zwischen zwei Cliquen hin und her - meiner „Gruppe“ und der Clique, die mir keine Hilfe anbieten wollte. Am liebsten will ich sie alle anschreien, dass sie verdammte Heuchler sind und an ihrer eigenen Falschheit ersticken sollen. Ich bin innerlich wütend, aufgebracht und zutiefst verletzt. Aber der innere Feldwebel zwingt mich, Haltung anzunehmen und mir nicht noch mehr Blöße zu geben. Er erinnert mich daran, dass ich es aus eigener Kraft allein hierher geschafft habe und dass mir diese Stärke niemand mehr nehmen kann. „Offenbar … haben wir uns wohl an irgendeiner Stelle verpasst, ja. Und zum Glück hatte ich einen Messeplan“, spreche ich schließlich ziemlich sachlich aus.
Ich werde niemandem beweisen können, dass ich nicht Schuld an der Situation trage, wenn man hier überhaupt von Schuld sprechen kann. Sich auf einer Veranstaltung wie dieser zu verlaufen ist sicher schon vielen passiert. Manchmal sind Tatsachen wie ein rosa Elefant im Raum – jeder sieht ihn, aber niemand will darüber sprechen. Und Fakt ist: Ich bin meinen Schulkameraden offensichtlich egal. Oder schlimmer – ein Dorn im Auge. Was soll man groß dazu sagen? Außerdem bin ich gerade schlicht zu erschöpft, um einem weiteren Konflikt standzuhalten und muss das Ganze erst einmal verdauen. Ich murmele etwas davon, dass ich gerade ziemlich müde bin, und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren. Die können mich alle mal. Echt jetzt. Aber ich lasse mir nichts anmerken.
EXPO 2000 - die zweite Chance
Als mein Dad mich an der Schule abholt, erzähle ich nicht im Detail davon, was mir mit dieser Klasse mal wieder passiert ist. Stattdessen suche ich die Eindrücke heraus, die eben doch nicht so schlecht waren. Dass die ganze EXPO doch ziemlich unübersichtlich war und man sich gar nicht alles angucken konnte, zum Beispiel. Ich denke heute, mein Dad ahnte, dass mal wieder etwas schief gelaufen war, besaß aber genug Taktgefühl, um nicht nachzubohren. Er wusste natürlich, dass ich in dieser „Gemeinschaft“ nicht glücklich war, aber immer noch die Hoffnung hatte, das Steuer herumzureißen. „Weißt du was“, sagt mein Dad schließlich nach dem Ende meiner Erzählung, „Wir fahren nächsten Monat einfach mit unseren Freunden noch einmal hin. Dann können wir die Pavillons anschauen, die du verpasst hast“. Ich nicke – das ist eine gute Idee, auch wenn mir beim Gedanken an dieses Gewühl noch ein wenig der Magen grummelt. Meine eigenen Eltern werden mich schon nicht einfach irgendwo stehen lassen und weggehen.
Zwei Wochen später betrete ich die EXPO-Hallen zum zweiten Mal und führe meine Familie im Zickzack-Kurs zu verschiedenen Stationen, die ich schon gesehen habe. „Na, du kennst dich aber hier aus“, meint meine Mum anerkennend und ein wenig staunend. Ich zucke die Achseln. „Ich hatte halt beim ersten Mal viel Zeit, um das herauszufinden. So oder so.“Jahre später war ich zum dritten und vierten Mal auf dem Messegelände in Hannover zu Gast – diesmal beruflich. Es kam mir gar nicht mehr so groß, gar übersichtlich vor. Aber was soll ich sagen – auch mein verunsichertes, „verlorenes“ und oft einsames Teenager-Ich ist erwachsen geworden und hat aus den Zitronen auf dem Weg leckere Limonade gebraut.
Sollte mich hier wider Erwarten übrigens jemand von meiner alten Schule erkennen oder gar sich selbst in meinen Texten zum Thema Mobbing: Ich habe nichts vergessen. Keine Intrige, kein Gerücht, keine Schikane aus dieser Zeit. Aber in dem Moment, wo ich die Erinnerungen aufschreibe, habe ich begonnen, euch das alles Stück für Stück zu verzeihen. Denn ich bin mir sicher: Auch ihr seid keine verunsicherten, nach sich selbst suchenden Teenager mehr, sondern Erwachsene, die ebenso wie ich aus allem Erlebten gelernt haben. Auch wenn ich bis heute nicht genau weiß, was uns alle in diese Lage hereingebracht hat.
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