Body Positivity ist nur was für Frauen und "echte Männer" betreffen Vorurteile und Diskriminierung nicht? Falsch - bei aller (teilweise berechtigten) Kritik einer männerzentrierten Gesellschaft hat auch das "starke Geschlecht" sehr oft mit Problemen zu kämpfen. Vor allem dann, wenn Männer nicht in steinzeitliche Schemata von Männlichkeit passen. Eine kurze Bilanz über den Status Quo.
Zum lockeren Einstieg - eure „Traummänner“
Aber kommen wir zur Sache und steigen einmal experimentell ins Thema „Männerbilder“ ein. Bereit für ein kleines Gedankenexperiment? Super. Dann, liebe Leser (m/w/d), schließt einmal eure Augen und stellt euch einen Mann vor, den ihr äußerlich als besonders attraktiv empfindet. Welche Größe, Statur, Haarfarbe und Hautfarbe hat er? Wie sieht sein Gesicht aus? Was trägt er (Farbe, Schnitt, Stil) und wie klingt seine Stimme? Behaltet das Bild vor Augen, lasst dann den inneren Blick abschweifen und stellt euch daneben oder gegenüber einen „Durchschnittsmann“ oder einen in eurer Wahrnehmung eher unattraktiven Mann (oder Transmann) vor. Stellt euch die gleichen Fragen wie bei seinem idealen Gegenstück.
Ihr habt beide virtuellen Kandidaten vor Auge? Sehr gut. Dann beantwortet euch nun folgende Fragen:
Wer ist beliebter beim anderen (oder gleichen ;) Geschlecht?
Wer ist erfolgreicher in seinem Beruf?
Wer ist vermögender?
Wer wird auf Partys öfter angesprochen?
Mit wem kann ich am ehesten interessante Gespräche führen?
Wer hat mehr Potenz(ial), Fantasie und Feingefühl im Intimen?
Wer ist ein besseres Vorbild für seine Kinder?
Wer schafft es eher, andere zu motivieren, z.B. als Coach oder Ehrenamtlicher?
Wer ist der zuverlässigere, verständnisvollere Partner?
Wer kann andere besser überzeugen und sich durchsetzen?
Wer ist handwerklich geschickter?
Wer redet und handelt klüger und verfügt über das größere Allgemeinwissen?
Man könnte die Fragenliste nun weiterführen oder auch kürzen. Hat sich jemand eigentlich dabei ertappt, bei „Kandidat 1“ einen hochgewachsenen, schlanken, muskulösen und gebräunten Typen in Badehose mit Rettungsschwimmerabzeichen zu visualisieren? Und diese Vorstellung stammt nicht von mir, dieses Klischee bediene ich nun mit Absicht ein wenig. Warum? Seht ihr gleich.
„Engelchen“ und „Teufelchen“ sind nicht nur Frauensache!
Wer den Beitrag über den Halo- und Horn-Effekt zuletzt mitverfolgt hat, erkennt wahrscheinlich nicht nur Teile des Gedankenexperiments wieder, sondern ahnt schon, wo diese Reise hingeht. Zur Erinnerung: Beim Halo-Effekt handelt es sich um die irrtümliche positive Verknüpfung äußerlicher Merkmale einer Person mit bestimmten Eigenschaften, die man schätzt. Bei dessen „bösem kleinen Bruder“, dem Horn-Effekt, verknüpft man unbewusst bestimmte äußerliche Merkmale einer Person mit als negativ empfundenen Eigenschaften. In vorherigen Artikeln haben wir vielleicht schon einmal ein wenig mit Heiligenscheinen und Teufelshörnern „gespielt“ und die Bilder im Kopf absichtlich ein wenig durcheinandergewirbelt, um uns der eigenen Vorurteile bewusst zu werden.
Aber um es kurz zu fassen: Wenn ihr nun all diese positiven Eigenschaften in der Fragenliste der „Idealfigur“ vor dem inneren Auge zugeschrieben habt, seid ihr dem Halo-Effekt wie viele andere auf den Leim gegangen. Das ist nicht verwerflich und macht euch nicht zu schlechteren Menschen – es ist schlicht Psychologie. Psychologie, die sich verschiedene Branchen zu Nutze machen, um Konsumenten und Käufer anzulocken. Und gewisse Vorurteile, wie der „perfekte“ Mann auszusehen hat, gab es schon, seitdem es Menschen gibt. Ebenso, wie dies bei Frauen der Fall ist.
Kämpfer, Beschützer, Mammutjäger
Der muskulöse, starke, unverletzliche Mann ist ein sogenannter Archetyp ebenso wie die fruchtbare „Venus“ mit ihrer ausgeprägten Sanduhrfigur ein ewiges Symbol des vermeintlich Weiblichen ist. Woher das kommt? Gehen wir doch einmal ein wenig in der Zeitgeschichte zurück. Am besten so ein paar Millionen Jahre, als der Homo Sapiens sesshaft wurde und begann, Ortschaften zu gründen, wo er sich mit einem größeren Clan niederließ. Eine Zeit, in der die Ära der Werkzeuge schon angebrochen und das Rad und das Feuer schon erfunden waren, aber das, was wir heute als „Zivilisation“ bezeichnen, noch in den Kinderschuhen steckte. Eine Zeit, in der es nötig war, sich voll und ganz auf das Überleben zu konzentrieren und sich auf seine Instinkte zu verlassen.
Frauen bekamen die Kinder und sammelten Früchte und Wurzeln, Männer rotteten sich in Gruppen zusammen und gingen jagen. Ein ziemlich gefährliches Unterfangen – nicht nur für die anvisierte Beute. Um bei der Jagd (und bei der Abwehr des Säbelzahntigers) bestehen zu können, brauche man(n) eben genau die Eigenschaften, die heute noch oft als männliches Schönheitsideal gelten: eine möglichst hochgewachsene, kräftige, „sportliche“ Statur. Nicht zu vergessen die dazu passenden „männlichen“ Charaktereigenschaften – Mut bis hin zum Todesmut, Entschlossenheit, Ausdauer und scharfe Sinne. Der äußere Archetyp des „idealen Sexualpartners“ ähnelte einem V – breite Schultern, kräftige Arme, schlanke und schnelle Beine. Im Unterbewussten ein Zeichen für: guter Beschützer, fruchtbar, mit Gesundheit gesegnet.
Überhaupt hatten Urmänner und Urfrauen im Vergleich nicht allzu viel Zeit, um über ihr Leben und ihre Gemeinschaft nachzudenken –dazu lebten sie einfach zu kurz. Wusstet ihr, dass die Zähne ab dem 30. bis 35. Lebensjahr allein schon deshalb „nachlassen“, weil die Urmenschen (und auch spätere Generationen von Menschen bis hinein ins Mittelalter) sie schlicht nicht mehr brauchten? Schließlich war jeder, der damals überhaupt 40 wurde, schon verdammt alt!
Zurück zu den Archetypen: Wenn ihr euch auch für den „weiblichen Archetyp“ interessiert, komme ich an anderer Stelle gern noch einmal darauf zurück. Aus dem Mammutjäger wurde irgendwann der sesshafte, hart arbeitende Farmer oder Krieger, aus dem Sesshaften der tollkühne Seemann oder Eroberer und aus dem Kämpfer und Jäger der „edle Ritter“. Oder eben das Gegenstück, der Raubritter oder Schurke. Kurz gesagt: Über Jahrtausende hinweg lernten Männer vor allem vier Dinge – kämpfen, erobern (auch die Damenwelt), beschützen, Territorium und Ressourcen sichern. Noch heute assoziiert man das „schwere“ Handwerk und das Militär noch vorwiegend mit Männern und tatsächlich ist der Frauenanteil in diesen und verwandten Bereichen bislang vergleichsweise gering.
Unterbewusstsein im „Steinzeitmodus“
Unsere Gesellschaft hat sich über Millionen Jahre weiterentwickelt – ob zum „Guten“ oder zum „Schlechten“, lässt sich an dieser Stelle schlecht differenzieren, dazu ist die Menschheitsgeschichte zu vielschichtig. Unser instinktgesteuertes Unterbewusstsein beziehungsweise das „Es“, wie es Freud bezeichnete, hat sich jedoch nicht wesentlich verändert. Und dieses „Es“ beeinflusst maßgeblich, wie Männer (und auch alle anderen Geschlechter) „Männlichkeit“ bewerten. Galt ein Mann von kleinem oder schwächerem Wuchs im Mittelalter noch als „kränklich“, empfindet er sich heute möglicherweise immer noch als „falsch“ oder „anders“. Galt ein Mensch mit sichtbarer Behinderung oder körperlicher Anomalie noch in den furchtbaren Zeiten der Euthanasie im 20. Jahrhundert als „Krüppel“, werden diese Menschen leider heute oft noch mit übermäßigem Mitleid, mit Misstrauen oder Ablehnung betrachtet oder fühlen sich von sich aus „nicht vollwertig“.
Auch das ist freilich ein Trick unseres Kleinhirns, der einst den Zweck hatte, den Menschen vor „kranken“ und „bedrohlichen“ Wesen zu warnen. Allerdings tragen wohl die wenigsten „kleiner“ gewachsenen oder korpulenteren Männer eine Maschinenpistole mit sich herum und auch Rollstuhlfahrer haben denkbar selten die Absicht, mit ihrem Gefährt unschuldige Mitmenschen zu überrollen. Betrachtet man die „Idealtypen“ der Menschheitsgeschichte, strotzten diese eben vor Kraft, Potenz und Gesundheit. Was nicht bedeutet, dass sie auch zwingend immer ihr Großhirn zum Denken verwendeten. Immerhin, Buddha-Statuen und diverse Überlieferungen beweisen: Wohlgenährte Männer galten in manchen Kulturen und Epochen als besonders zufrieden und wohlhabend. Dass der echte Buddha eher ein Asketenleben führte, wird in dieser Darstellung geflissentlich übersehen.
Selbstzweifel und ein negatives Körperbild
Erst kürzlich ging ich an einer Werbung für das örtliche Fitnessstudio vorbei. Ein extrem durchtrainiertes, drahtiges Paar, das Hanteln stemmt mit der Aufschrift: Alles für deine Gesundheit! Es spricht keinesfalls etwas gegen Sport, um fit zu bleiben, aber die Werbung überspitzt gängige Körperbilder doch schon heftig. Und ich kenne aus meinem eigenen Leben durchaus einige Beispiele für Jungen und Männer, die darunter gelitten haben, nicht dem männlichen „Idealtypus“ zu entsprechen. Da war der beste Kumpel, der sich offenbar immer „weiblicher“ fühlte als er zugeben wollte (und durfte). Heute ist der Teenager, der sich an Karneval gern als Frau verkleidet hat, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft.
Und der andere Kumpel, der für einen Jungen seines Alters immer „zu zierlich“ war und sich vor Scham tage- und wochenlang in sein Zimmer verkroch, als er an einem Penisbruch litt (eine sehr schmerzhafte Vorstellung durchaus). Der etwas mollige, rothaarige Junge mit den Sommersprossen, der nach wenigen Wochen die Klasse in der Unterstufe verließ, weil die anderen Jungen ihn regelmäßig hänselten. Und schließlich all die erwachsenen Männer, die sich nicht „richtig“ oder „attraktiv“ fühlten, weil sie bestimmten Kriterien von „Männlichkeit“ einfach nicht entsprachen. Kurioserweise hatten auch einige Männer (und Frauen) in meinem Umfeld schon Probleme damit, wenn eine Frau ihren Partner körperlich überragte – mit oder ohne Absatzschuhe. Auch das ist vermutlich so ein „Beschützerethos“.
Testosteron ausstrahlen um jeden Preis
Auf der anderen Seite gibt es die männlichen Vertreter unserer Spezies, die äußerlich gefühlt oder real dem Ideal des „starken Mannes“ entsprechen, aber durch allerlei Seltsamkeiten auffallen. Durch lautes Herumtönen und Angeben zum Beispiel, wie ein Ex-Freund im Studium, der bei seiner neuen Freundin angeblich „drei bis vier Stunden“ das Bett zum Knarzen gebracht haben soll. Ich hätte mich in dem Moment fast an meinem Kaffee verschluckt und antwortete ihm vor versammelter Mannschaft nur knochentrocken: „DAS glaub ich dir aber nicht“. Das Grinsen meiner Freundinnen hat man wahrscheinlich noch am Nebentisch gesehen. Oder der Handwerker, der glaubt, alles zu können, aber dann doch an den Punkten scheitert, wo man genau und mit Köpfchen arbeiten muss. Ansonsten ein sehr charmanter Sunnyboy mit breiten Schultern, fällt ihm das Nachdenken manchmal doch weniger leicht als das Meckern über alles drumherum. Ich kann ihn dennoch gut leiden, er ist ein Superkumpel und sehr hilfsbereit.
Nicht vorenthalten will ich euch die Geschichte von dem Typen mit gestähltem „Superbody“, der sich gerne mal bei der ersten Übernachtung bei einer Frau nackt ins Bett legte in der Erwartung, sofort zum Zug zu kommen. Ein riskantes Unterfangen – so ein Plan kann funktionieren, muss aber nicht. Und zuletzt gab es diesen einen Ex-Freund, der sich offenbar nur wichtig und erfolgreich fühlte, wenn er mit seinem schicken Dienstwagen wie der Teufel über deutsche Autobahnen und durch enge Kurven rasen konnte. Kann man ja gern manchen, wenn einem nicht so viel am eigenen Leben liegt. Der Haken dabei: Ich saß oft auf dem Beifahrersitz und wollte verdammt nochmal lebendig und ohne Herzinfarkte am Zielort ankommen.
Manchmal wurden die „beruhigenden“ Standardfloskeln von wegen „Keine Sorge, ich kenn doch mein Auto und hab das im Griff!“ aber selbst mir zu viel. Sodass ich ihm während einer Fahrt zu einer Messe an den Kopf warf: „Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ICH will noch im Ganzen dort meinen Kaffee trinken! Entweder nimmst du sofort die Finger vom Laptop, oder ich fahre und du arbeitest.“ Das hatte gesessen, „Mister Fast and Furious“ setzte sich auf dem nächsten Rastplatz mit seinem Laptop auf den Beifahrersitz und wagte nicht mal mehr darüber zu meckern, dass ich mit höchstens 150 km/h „zu langsam“ fahre. So wie er es sonst gern mal getan hatte, bis man ihm mit extrem überhöhter Geschwindigkeit mal ein schickes Foto zuschickte und ihm für einige Wochen den Führerschein abnahm. Ich wollte ja wirklich nicht fies sein, konnte bei jeder Beschwerde vom Beifahrersitz aber mit Stolz sagen: „Also, ich hab meinen Lappen noch!“.
„Wann ist ein Mann ein Mann?“
Aber was macht Männer und Männlichkeit denn nun eigentlich aus? Mit gängigen Klischees spielt auch Herbert Grönemeyer mit seinem Gassenhauer „Wann ist ein Mann ein Mann?“. Männer sind vor allem eines: Menschen. Sie dürfen bestimmte äußerliche Eigenschaften, Charakterzüge und Interessen haben, müssen es aber nicht. Lieber Mann da draußen, es ist total in Ordnung, wenn du einen „Waschbärbauch“ anstatt eines „Waschbrettbauchs“ hast. Waschen kannst du natürlich gern, ebenso wie putzen, bügeln und kochen, ob mit oder ohne Schürze. Die meisten Frauen im 21. Jahrhundert sind dir sogar außerordentlich dankbar, wenn du solche Dinge nicht als „Frauenarbeit“ ablehnst und auf die kleinen Finger der Frau als beste Voraussetzungen zum Eckenputzen verweist. Du kannst, musst aber auch nicht mit Werkzeug umgehen und die Bude auf Vordermann bringen können. Es ist absolut zeitgemäß und in Ordnung, wenn du Elternzeit nimmst und dich um deine Kinder kümmerst, oder dir die Sorgearbeit mit Partner oder Partnerin zumindest teilst. Es zwingt dich niemand, ein reiner Versorger für die Familie zu sein, wenn ihr das anders möchtet. Du musst dich nicht schämen, wenn deine Frau größer ist als du und auch nicht aussehen wie Superman oder der Typ aus der Coca-Cola-Werbung. Du darfst Schwächen haben und auch offen darüber sprechen und du musst auch nicht immer „wollen“ und „können“. Du bist für die richtigen Menschen um dich herum liebenswert und eine Bereicherung – so, wie du jetzt bist. Und, liebe Männer, die das lesen, vergesst nie: Die wichtigsten Muskeln in eurem Körper sind euer Herz und euer Hirn. Alles Weitere ist reine Auslegungssache.
Für alle , die mehr zum Thema "Männerbilder früher und heute" wissen wollen, folgt hier noch ein Doku-Tipp.
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