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Von Heiligenscheinen und Teufelshörnern

"Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance!". Leider ist an diesem typischen Ratgeberspruch in den meisten Fällen etwas dran, sei es beim Bewerbungsgespräch oder beim ersten Date. Überall, wo Menschen sich erstmalig begegnen, macht auch das äußere Auftreten einer Person einen großen Anteil der Fremdwahrnehmung aus. Blindes Vertrauen in das, was zuerst ins Auge fällt, stellt sich jedoch oft als Irrtum heraus. Was steckt also hinter dem Halo-Effekt und wie lässt er sich überlisten?




Um in das heutige Beitragsthema hineinzukommen, braucht es ein wenig Fantasie von euch Leserinnen und Lesern. Begleitet ihr mich zu einem kleinen Gedankenexperiment über die durch das Aussehen einer Person beeinflusste Wahrnehmung?


Tödlicher Lookismus


Ja, ich sehe deutlich die Fragezeichen über euren Köpfen, von wegen, was zur Hölle meint Cat denn nun schon wieder? Wenn ihr bis hierhin gekommen seid, seid ihr offenbar noch mit an Bord – das freut mich. Lookismus (englisch: lookism) bezeichnet schlicht eine Form der Diskriminierung, bei der einer Person aufgrund äußerlicher körperlicher Merkmale bestimmte negative Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Andersherum, als „positive Diskriminierung“, werden andere Menschen mit anderen Merkmalen mit „überhöhten“ und idealisierten Vorstellungen in Verbindung gebracht. Hier einige sehr extreme Beispiele aus der Geschichte, die sich mit rassistischen Vorurteilen überschneiden:


  • Die krumme „Judennase“ in Verbindung mit schwarzen Haaren und Kippa im Vergleich zum blonden und blauäugigen „Herrenmenschen“ in der NS-Zeit;

  • „Rothäute“ und „Neger“ mit dunkler Hautfarbe vs. „edle Blässe“ der Hellhäutigen im Zuge der Kolonialära;

  • rote Haare als Erkennungsmerkmal für eine „Hexe“ und als Grund für Hexenprozesse.


Betrachtet man den Lauf der Menschheitsgeschichte, fallen einem sofort zwei Dinge auf:


  1. Der Mensch ist – aller Entwicklung, Zivilisation und Bildung zum Trotz – immer eine oberflächliche und gegen „Fremdes“ aggressive Spezies geblieben.

  2. Diese Oberflächlichkeit und verdrängte Angst vor dem Andersartigen endeten für bestimmte Gruppen, welche unbewusst ein „Feindbild“ darstellten, schon oftmals tödlich.


Nun sind Völkermorde und aus dem Ruder gelaufener Aberglaube zum Glück Ausnahmen von einer ansonsten recht menschenverträglich geregelten Gesellschaftsordnung. Dass der Mensch mit zunehmender Macht oft gierig und kriegerischer wird, beweisen uns nach wie vor zahlreiche Kriege weltweit – diese Handlungen berufen sich allerdings eher auf territoriale Konflikte. Eine vollständige Betrachtung des Geisteszustands der Menschheit würde hier auch jeden Rahmen sprengen.


Gute Körper – schlechte Körper


Allen Denkmustern des Lookismus liegt zugrunde, dass sie auf physiognomischen Annahmen basieren. Noch einmal einfacher ausgedrückt: Zeig mir deine Nase (deine Brüste, deine Füße, deine Hände, deine … ähm … lassen wir das ;)) und ich verrate dir, wer und vor allem WIE du bist. Zwei ein wenig anzügliche Sprüche, die solche Fehlschlüsse noch einmal gut wiedergeben: „Rostiges Dach, feuchter Keller“ (über rothaarige Frauen) und „An der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes“. Auch Blondinen bekommen in Witzen und Sprüchen regelmäßig ihr Fett weg. Stichwort Fett – jetzt geht’s zum Gedankenexperiment.





Setzt euch einmal gemütlich hin und stellt euch auf der einen Seite eine sehr schlanke, durchtrainierte und geradezu „perfekt“ gepflegte Person vor (Mann oder Frau ist egal). Und dann visualisiert auf der anderen Seite, meinetwegen auch daneben, eine Person mit mehr Körperfülle, vielleicht in weniger hochwertiger und nicht ideal sitzender Kleidung. Stellt euch nun folgende Fragen:


  • Wer setzt sich gleich gepflegt in ein Restaurant und bestellt sich einen Chefsalat mit Vollkornbaguette?

  • Wer begnügt sich am Eiswagen mit einer Kugel Eis?

  • Wer wählt im Modegeschäft das figurbetonte elegante Outfit und die Shorts? (für Männer: die eng sitzende Jeans und das figurnahe Polohemd)

  • Wer hat eine längere Trainingszeit im Fitnessstudio und bewegt sich viel im Alltag?

  • Wer hat berufliche Ziele und verfolgt diese konsequent?

  • Wer geht besonders liebevoll mit seinen Kindern um und kümmert sich umfassend um das Wohl der Familie?

  • Wer hat das höhere Gehalt?

  • Wer ist verantwortungsbewusster, fleißiger, klüger und besser im Verhandeln?


Eine letzte Frage: Habt ihr nun bei allen Fragen gedacht, doofe Frage, natürlich die schlanke Person mit den perfekt sitzenden Klamotten? Dann seid auch ihr wie die meisten Menschen in die Lookismus-Falle getappt und habt die Personen und ihre Eigenschaften nach physiognomischen Gesichtspunkten beurteilt.





Halo-Effekt und Horn-Effekt


Sollte euer Unterbewusstsein sofort die schlanke, gestylte Person mit all diesen „positiven“ Eigenschaften verknüpft haben und garantiert nicht die „dickere“ und „ungepflegtere“, war das sicher kein böser Wille. Schuld ist der sogenannte „Heiligenschein-Effekt“ (Englisch: halo effect). Die spiegelverkehrte Umkehrung davon ist der „Teufelshörner-Effekt“ (Englisch: horn effect). Und wer hat’s erfunden? Sicher nicht die Schweizer (und schon gar nicht die von „Ricola“), sondern zwei US-amerikanische Psychologen des 20. Jahrhunderts. Frederic L. Wells beobachtete die Effekte der positiven und negativen Wahrnehmungsverzerrung aufgrund eigener Sympathie und Antipathie bereits 1907, weiter erforscht und benannt wurde dieses Phänomen von Edward Lee Thorndike. Hier zwei konkrete Beispiele für die unbewusste Verknüpfung von Sympathie und Antipathie bei der Beurteilung eines Menschen mit bestimmten Charakter- und Körpermerkmalen:


  • A hat eine Freundin, B, die immer hilfsbereit und pünktlich ist und zufällig sehr auf ihre Figur achtet. A verknüpft demnach die positiven Eigenschaften „Pünktlichkeit“ und „Hilfsbereitschaft“ mit Personen, die B ähnlich sehen. Sie wird daher „dünnen“ Frauen mehr vertrauen als „dicken“.

  • C, die Schwester von A, vergisst oft Verabredungen und sagt nicht einmal ab. Weiterhin lehnt sie auch jede Bitte ab, auf ihre Nichten aufzupassen, obwohl A ihr oft beim Einkaufen hilft. Zufällig ist C eher füllig und schminkt sich sehr selten. Dementsprechend wird A mit schwereren, ungeschminkten Frauen unbewusst negative Charaktereigenschaften verknüpfen: Unzuverlässigkeit und Undankbarkeit.


Unterwegs mit Engelchen und Teufelchen


Thorndikes Erkenntnissen zufolge laufen wir also andauernd mit zwei Begleitern auf den Schultern herum: Engelchen und Teufelchen. Und beide flüstern und ständig ein, was sie von einer Person halten sollen, die wir vielleicht noch gar nichts kennen. Auf diesem Ansatz basiert wohl auch das Sprichwort: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Um dies zu verdeutlichen, wiederholen wir noch einmal das Gedankenexperiment vom Anfang. Stellt euch also noch einmal die schlanke, gestylte Person und die molligere Person in weniger gepflegter und “teurer“ Kleidung vor. Bilder vor Augen? Sehr gut, und nun stellt euch einmal kurz folgende Fragen:


  • Wer geht gleich zum Imbiss und holt sich einen Cheeseburger und eine große Portion maximal gesalzener Pommes?

  • Wer gönnt sich am Eiswagen eine Eiswaffel mit drei Kugeln Eis?

  • Wer kauft im Modegeschäft die schwarze, lange High-Waist-Jeans und die lockere Oversize-Tunika? (für Männer: die XXL- Shorts und das T-Shirt in Ãœbergröße)

  • Wer schaut lieber fern, als einen Sportkurs zu besuchen, und bewegt sich generell im Alltag kaum?

  • Wer arbeitet nur so viel wie gerade eben nötig oder bezieht gar Arbeitslosen- oder Bürgergeld?

  • Wer begegnet seinen Kindern schroffer und autoritärer und zeigt weniger Interesse an gemeinsamen Aktivitäten mit seiner Familie?

  • Wer verdient weniger oder muss sein Gehalt aufstocken?

  • Wer verhält sich weniger zuverlässig, handelt oft unüberlegt, besitzt weniger Taktgefühl und überlässt anfallende Arbeiten lieber anderen?


Wenn ihr eine Mehrheit dieser Fragen innerlich mit „Na, die füllige Person mit den Falten im Shirt!“ beantwortet habt, hat euch – ihr ahnt es – der Horn-Effekt mit voller Breitseite erwischt.





Das Unterbewusste als Warnsystem


Das Phänomen des Halo- und Horn-Effekts gibt es nicht ohne Grund. Der Urmensch musste schließlich blitzschnell entscheiden, wer „Freund“ und wer „Feind“ war Fremdartig, gefährlich oder „seltsam“ aussehende Wesen kamen in früheren Zeiten tatsächlich oftmals in kriegerischer, aggressiver Absicht. Die indigenen Völker Nord- und Südamerikas sind sicherlich gute Beispiele dafür, dass Toleranz und Freundlichkeit gegenüber fremden „Eindringlingen“ in die gewohnte Lebenswelt auch in Vertreibung, Versklavung und Tod enden können. Und die Zähne eines Säbelzahntigers wirkten auf den frühen Homo sapiens sicher auch nicht gerade vertrauensfördernd.


Es handelt sich beim Halo- und Horn-Effekt also um ein fest integriertes Warnsystem in unserem Gehirn, das sicher auch seinen Nutzen hat. In echten Gefahrensituationen - allerdings treten diese in unserem Alltag vergleichsweise selten auf. Denn möchte irgendjemand behaupten, dass der Mann mit Bierbauch und Mottoshirt mit seiner Eiswaffel in der Hand eine unübersehbare Lebensgefahr darstellt? Oder auch die muskulöse, hochgewachsene, dunkelhäutige Basketballspielerin mit Rastalocken? Genau dieser Eindruck wird, so bestätigen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu HAES beitragen, allerdings in der Gesellschaft zu oft suggeriert. Lookismus deluxe also mit einer Menge Vorurteile gegenüber allen „andersartig“ aussehenden Menschen. Darunter leiden unter andere dann auch körperbehinderte Menschen, die neben den realen Einschränkungen in einer Welt voller Barrieren noch zu oft Bekanntschaft mit Vorurteilen, Hass und Misstrauen machen müssen.




Reingefallen! Und jetzt?


Um den Halo- und Horn-Effekt auszutricksen, muss man vor allem den gängigen Glaubenssatz revidieren, den ersten Eindruck könne man nicht durch einen zweiten verändern. Oftmals lohnt es sich aber, den „ersten Blick“, der nur die Oberfläche trifft und einen oftmals täuscht, zu hinterfragen. Ich kann hier aus dem Stehgreif keine Meditation und kein Audio für das Unterbewusste anbieten, damit dies besser gelingt, schlage aber eine kleine, witzige Visualisierungsübung vor. Schaut noch einmal auf die beiden von euch erdachten „Testpersonen“ und ruft euch ins Gedächtnis, welche „ersten Eindrücke“ ihr gewonnen habt. Setzt ihnen am besten je auch noch einen Heiligenschein und ein Paar Teufelshörner auf den Kopf. Wie an Karneval oder bei einer Mottoparty. Dann tauscht oder verändert einige äußerliche Merkmale dieser Personen und schafft daraus lustige Kombinationen. Ihr dürft auch gerne die Heiligenscheine du Teufelshörner vor eurem inneren Auge vertauschen.


Die Ergebnisse werden vor allem eines sein – absolut vielfältig. Vielleicht kennt noch jemand das Spiel, bei dem eine Person den Kopf eines Tieres zeichnet, das Blatt umknickt, und an die nächsten Personen dieses Blatt weitergibt, damit diese aus ihrer Fantasie heraus weitere Körperteile eines Tieres zeichnen können. Am Schluss faltet man hier das Blatt wieder auf und es kommen Girfroschenten, Kathundpferde oder Schmettermausvögel heraus. Zugegeben, ein sehr spielerischer Ansatz für ein ernstes Diskriminierungsproblem – aber er zeigt, wie bunt die Welt ist und dass es oft Unsinn ist, sofort eine Person nach dem Äußeren in eine Schublade zu stecken.


Habt ihr das Gedankenexperiment einmal komplett durchgeführt? Waren die spontanen Antworten auf die oben genannten und eure weiteren Fragen noch die gleichen? Wie haltet ihr euch davon ab, euch zu oft vom „ersten Blick“ leiten und täuschen zu lassen? Ich bin gespannt auf eure Lösungen!





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