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„Philomena“: Menschen in Schande

„Schande“ ist ein mächtiges Urteil- es brandmarkt Menschen im schlimmsten Fall für ihr ganzes Leben. Im Film „Philomena“, gedreht und benannt nach einer wahren Begebenheit und der Biografie von Philomena Lee, treffen drei „gefallene Charaktere“ aufeinander. Jeder von ihnen ist auf seine Art ein „Schandfleck der Gesellschaft“ und fordert das System mit der Wahrheit heraus.





Stell dir mal vor, du bist jung, arm, ledig, erwartest ein Kind und suchst Hilfe. Diese findet man heute häufig in staatlichen oder kirchlichen Beratungsstellen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Institutionen unterstützen werdende Mütter bei der Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch, informieren über komplizierte Verwaltungs- und Adoptionsverfahren sowie Transferleistungen für Betroffene, spenden Mut und Trost. Nun, zumindest sollte es so sein. Eine Zeitreise zurück ins tief katholische Irland der 1950er Jahre. Auch hier gibt es „Hilfsstellen“ für unverheiratete Schwangere in Nöten in Form von „Mutter-und-Baby-Heimen“ sowie den Klöstern des „Ordre du Bon Sécours“- Schwesternordens. Was Frauen – egal ob unehelich schwanger oder „nur“ angeblich unzüchtig im Denken und Handeln – „im Haus Gottes“ erwartet, gleicht jedoch eher eine Vorhölle auf Erden.


Das Grauen hinter verschlossenen Türen


Was das Leben in einem „Mutter-und-Baby-Heim“ und als Arbeiterin in der „Magdalenen-Wäscherei“ wirklich bedeutet, muss auch Philomena Lee, die real existierende Protagonistin des Films erfahren. In einer Zeit, in der Vergewaltigungen noch sehr inkonsequent rechtlich verfolgt werden und sexuelle Verhütung und Aufklärung gerade für viele Frauen noch Fremdworte sind, betritt sie 1952 einen solchen „Rückzugsort“ für ledige werdende Mütter. Oder, da weibliche Lust und Sexualität noch als komplettes Tabu gelten, aus Sicht des irischen Staates und der katholischen Kirche eher eine Strafanstalt für „gefallene Frauen“. Und genau so werden die Schwangeren und jungen Mütter sowie ihre Kinder in diesen Institutionen auch behandelt – mehr Zahlen, Daten und Fakten dazu in einem Beitrag zum Hintergrund.


„Gefallene Frauen“ und „die Saat des Teufels“, da außerhalb des Ehebundes gezeugt, sind für die Nonnen in den insgesamt 18 Unterbringungen Menschen niederer Klasse, eigentlich des Lebens nicht wert und schlicht nützliche Gefangene, mit denen sie Profite für ihre Klöster einstreichen können und staatliche Fördergelder erhalten. Babys und Kinder werden gegen Geld in die USA verkauft, die Mütter müssen jahrelang unentgeltlich hart arbeiten, um auch finanziell ihre „Schuld“ für den erzwungenen Aufenthalt abzuleisten und sie verlieren zudem jegliche Rechte am eigenen Kind. All dies müssen die Verzweifelten, die oft keine andere Zuflucht mehr finden, vertraglich bezeugen. Im juristischen Klartext von heute begehen die „unbarmherzigen Schwestern“ also gleich mehrere Schwerverbrechen – Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Kindesentführung. Und das ohne den geringsten Anflug von Reue.





Unbarmherzige Schwestern und ihre Doppelagentinnen


Bei der Geburt von Philomenas Sohn Anthony geraten Mutter und Kind wie viele andere vor und nach ihnen zum Beispiel in eine lebensbedrohliche Situation. Das Kind liegt in Steißlage, es gibt schwere Geburtskomplikationen ohne ein Anrecht auf Schmerzlinderung. „Wir müssen einen Arzt holen“, fordert eine mutige Ordensschwester von der Oberin, hier „Schwester Hildegard“ genannt. Doch Schwester Hildegard schaut die leidende Schwangere mit Todesängsten nur abschätzig an und antwortet: „Nein, das liegt in Gottes Hand. Ihr Schmerz ist der Preis für ihre Sünde!“. Somit kämen noch fahrlässige Tötung und unterlassene Hilfeleistung hinzu – wohlgemerkt aus heutiger Perspektive. Gott kann man theoretisch eben als Ausrede für alles missbrauchen - Moment, war das gerade eine Spur blasphemisch? Well, sorry not sorry.


Dank der Hilfe von „Schwester Anunziata“, die auf eigene Gefahr jede Gelegenheit nutzt, das Leiden aller „Insassen“ der abgeschlossenen Einrichtung zu lindern, erblickt Anthony dennoch lebend das Licht der Welt und wächst zu einem freundlichen, gesunden Jungen heran .Zusammen mit seiner Freundin (und späteren Adoptivschwester) Mary, der Tochter von Philomenas bester Freundin Kathleen. Die Mütter, deren Kinder noch nicht adoptiert wurden, dürfen ihren Nachwuchs nach der Arbeit in der“ Magdalenen-Wäscherei“ für eine Stunde am Tag sehen. Noch im Kleinkindalter ereilt allerdings auch Mary und Anthony das Schicksal der Zwangsadoption - beide werden von einem „großen schwarzen Auto“ mitgenommen. Philomena sieht die traurigen Augen ihres Sohnes aus einer Rückscheibe starren, während sie selbst verzweifelt an den Gittern rüttelt. Und von Schwester Hildegard eiskalt und postwendend wieder an die Arbeit geschickt wird.


Fast 50 Jahre später wird sie Schwester Hildegard noch einmal treffen. Diese ist der Typ von Frau, der sich auch im hohen Alter so verächtlich gegenüber „den Sündigen“ äußert, dass Journalist Martin Sixsmith zynisch anmerkt: „Wäre ich Jesus, würde ich Sie jetzt sofort aus Ihrem Rollstuhl schubsen!“. Schwester Hildegard ist demnach die perfekte Verkörperung frauenfeindlicher, verknöcherter Strukturen, für die der Katholizismus bis heute oft kritisiert wird. Übrigens: Das letzte „Mutter-und-Baby-Heim“ schloss nach fast einem Jahrhundert Dauerbetrieb mit verdeckten Menschenrechtsverletzungen erst 1998. Es bleibt jedoch – siehe „Schwester Anunziata“- festzustellen, dass nicht alle Ordensschwestern über den gleichen Rosenkranz gebetet werden können. Schwesternorden deswegen gemeinhin als „Schandflecken“ darzustellen, wäre trotz aller grausigen Tatsachen zu kurz gedacht.





Martin Sixsmith – erst tiefer Fall, dann Welterfolg


Mit dem Gefühl, in Ungnade gefallen zu sein, kennt sich übrigens auch Martin Sixsmith aus. Denn bevor er sich mit als rührselig abgewerteten Human-Interest-Geschichten wie dem von Philomena auseinandersetzt, wurde er aufgrund einer missverstandenen Aussage unrühmlich aus der PR-Stelle der britischen Regierung entlassen. Die „gefallene Frau“, die seit 50 Jahren ihren Sohn sucht, und der „gefallene Journalist“ treffen eher zufällig zusammen – durch die Vermittlung von Philomenas Tochter Jane.


Nach anfänglichem Zögern sagt Sixsmith zu, Philomena bei der Suche nach ihrem Sohn zu helfen und die Untaten in irischen Klöstern sichtbar zu machen. Dies tut er sowohl aus persönlichem als auch aus finanziellem Interesse. Denn die berechnende Human-Interest-Expertin Sally übernimmt mit ihrem Verlag alle Kosten für seine Recherchen und wittert wie er selbst etwas Großes, das Aufsehen erregt und Leser anzieht. Beide sollen Recht behalten: Über die Adoptionsbehörden in den USA finden sie die Identität von Philomenas entrissenem Sohn heraus und erfahren, dass er es als Michael Anthony Hess bis zum Rechtsberater mehrerer republikanischer Regierungen gebracht hat. Niederschmetternd für Philomena: Ihr Sohn ist bereits verstorben, als sie davon erfährt. Denn die Nonnen des Geburtsklosters hatten angeblich alle Dokumente abgesehen vom Adoptionsvertrag in einem Feuer „verloren“. Wieder eine dreiste Vertuschung und die Vernichtung von Beweisen, wie sich später herausstellt.


Was aber passierte im Leben von Michael A. Hess, nachdem er seiner Mutter entrissen wurde? Diese Story wird Martin mit einem eigenen Buch weltweite Bekanntheit bringen – nachdem er sich dazu entschlossen hat, Philomenas Geschichte nicht der reißerischen Boulevardpresse zum Fraß vorzuwerfen.





Das Doppelleben des Michael A. Hess


Gibt es denn nun wenigstens einen Charakter, der glücklich und erfüllt aus dieser wahren Geschichte herausgeht? Leider nein – denn Michael A. Hess und seine neue „Adoptivschwester“ Mary hatten es mit einem cholerischen und strengen Adoptivvater auch nach dem Trauma der Zwangsadoption (übrigens einer von geschätzt 100.000 bis 150.000 Fällen, Dunkelziffer unbekannt) nicht besonders gut getroffen. Trotzdem avanciert Michael Hess zum erfolgreichen Rechtsberater der Regierungen unter George Bush und Ronald Reagan. Ein kometenhafter Aufstieg also für den Sohn einer „gefallenen Frau“.


Trotzdem lebt auch Michael jahrzehntelang mit einem Tabu, das er um jeden Preis geheim halten muss – er ist homosexuell. Eine „Schande“ für einen ehrgeizigen Republikaner, einen amerikanischen Bürger, einen „echten Mann“. Denn auch im sogenannten Land der unbegrenzten Möglichkeiten täuscht die Fassade.

Die gewaltsame Entwurzelung, die lange erfolglose Suche nach seiner Herkunft, der Leidensdruck aufgrund einer „abseitigen“ sexuellen Neigung und schließlich eine HIV-Erkrankung tragen deutlich zu Michaels vorzeitigem Tod bei. Nicht überraschend: Auch dem todkranken Michael alias Anthony werden durch die älteren Ordensschwestern mutwillig Informationen vorenthalten. Jedoch besteht er darauf, an seinem Geburtsort beerdigt zu werden, sodass Philomena sein Grab in Irland besuchen kann.





FSK, Cast und andere „Routineangaben“


Ich habe nun durch lauter menschliche Tragödien und zu tiefe Einblicke in die Abgründe abstruser Systeme noch gar nichts zum Film selbst gesagt. Schande über mich – aber die meisten von uns können sicher damit leben, ein paar Buchstaben bei Google einzugeben. Die meisten „Basic Facts“ über die Produktion könnt ihr übrigens unter anderem hier nachlesen. Von meiner Seite aus möchte ich mich hier auf ein paar Kernaussagen beschränken.


  • Judi Dench als „Philomena“, Steve Coogan als „Mart“ und auch die Nebendarstellerin, die Schwester Hldegard spielt, liefern eine großartige schauspielerische Leistung ab.

  • Der Film wurde 2014 ziemlich kurz nach der autobiografischen Erzählung „Philomena: Eine Mutter sucht ihren Sohn“ produziert. Beides schlug aufgrund seiner packenden Thematik und der feinfühligen Darstellung sauber recherchierter Fakten ein wie eine Bombe. So war die Verfilmung für vier Oscars und drei Golden Globes nominiert.

  • Die Autobiografie von Philomena Lee eröffnete groß angelegte Recherchen zu den Vergehen der katholischen Kirche gegenüber Frauen und Kindern. Sie ermutigte auch immer mehr Opfer dieser grausamen Systempraktiken, sich zu öffnen. Das dürfte allen „Schwester Hildegards“ inzwischen echte Kopfschmerzen bereitet. Verdient, denn: „Die Schmerzen sind das Ergebnis ihrer Sünden“. Und unter uns gesagt: Gott, wenn es ihn gibt, muss beide Augen zugedrückt haben, wenn da kein Blitz einschlägt ;).

  • Die FSK-Angabe in Deutschland ist „FSK 6“. Als Mutter einer sechsjährigen und einer zweijährigen Tochter würde ich den Film aber nicht zusammen mit meinen Kindern schauen. Zwar erspart Regisseur Frears seinen Zuschauerinnen und Zuschauern weitgehend blutige oder physisch gewaltsame Szenen und lässt die Charaktere nüchtern und teilweise mit typisch britischem Humor auftreten. Allerdings ist die unvermeidliche Darstellung psychischer Gewalt nicht zu unterschätzen, wenn einen schon als Elternteil bei manchen Szenen und während der Hintergrundrecherche das kalte Grauen packt.

So viel zur Verfilmung selbst, vielleicht habt ihr ja Lust bekommen, euch ein eigenes Urteil zu bilden. Ein Interview mit der „echten“ Philomena habe ich euch hier verlinkt. Schreibt mir gern, wie ihr den Film empfunden habt!


Eure Cat




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