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Streitfälle für die Tonne

Das schmutzige Geschirr neben der leeren Spülmaschine, der kleine Fleck auf dem frisch gewaschenen Kleid, das „falsche“ Timing des Paketboten … Es gibt unzählige Alltagskonflikte, an denen wir uns gefühlt ewig abarbeiten und die Nerven aufreiben können. Aber mal ehrlich – was bringen uns diese ganzen Mikrokonflikte eigentlich? Und wovon wollen wir uns selbst und andere damit ablenken?


Wo Menschen zusammenleben, entsteht „Zoff am Zaun“. Kleine Interessenskonflikte liegen in der menschlichen Natur, denn auch wir sind letztendlich „nur“ Säugetiere mit Gewohnheiten, Revieren und Bedürfnissen.Dennoch scheinen manche Exemplare unserer Spezies streitlustiger zu sein als andere.




Die Sache mit der Mülltonne


„Kommst du mal eben runter? Die Nachbarin steht vor der Tür!“, ruft mein Mann inmitten meiner abendlichen Kochroutine die Treppe hoch. Ich seufze kurz, na tolles Timing mal wieder. „Klar, pass mal kurz auf die Nudeln auf!“, rufe ich zurück und eile die Treppe hinunter. „Guten Abend!“, grüße ich dann Frau B., die Nachbarin von schräg gegenüber, freundlich. Doch Frau B. scheint nicht an einem fröhlichen Plausch interessiert, stattdessen wirkt sie außer sich vor Wut. In meinem Kopf tun sich indes 1000 Fragen auf. Was zur Hölle haben wir angestellt, wovon wir nichts wissen? Nachdem Frau B. es doch noch geschafft hat, tief Luft zu holen, legt sie mit ihrer Schimpftirade los. „Warum stellen Sie immer unsere Mülltonne weg? Das ist unser Eigentum und der Bürgersteig ist nicht Ihr Grundstück!“ Für einen kurzen Moment muss ich rastern, dann fällt mir ein, was sie meint.


Frau B. stellt seit Jahren ihre Mülltonnen auf die gegenüberliegende Straßenseite, da die eigenen Autos auf ihrer Seite dem Müllwagen den Zugang unmöglich machen. Das wäre ja nicht weiter tragisch, würde sie ihre Tonnen nicht grundsätzlich in dem Bereich platzieren, in dem ich schräg rückwärts in unserer Einfahrt einparken muss. Um sicherzugehen, dass keine Kollision entsteht, stelle ich die Tonne gern kommentarlos zwei Meter weiter weg. Auch das sollte normalerweise keiner Diskussion wert sein. Für Frau B. Ist es das offenbar doch. Ich versuche es also mit einer freundlichen Erklärung. „Das stimmt, der Bürgersteig ist selbstverständlich für alle da. Allerdings stehen die Tonnen sehr nah an der Einfahrt und ich kann einfacher einparken, wenn ein bisschen mehr Platz nach vorn da ist.“




Wie in einem Loriot-Sketch


Die meisten Menschen würden eine vernünftige Erklärung zu einer solchen Nichtigkeit wahrscheinlich sofort abnicken und einem Kompromiss zustimmen. Nicht jedoch Frau B., die noch empörter durch meinen höflichen Einwand wirkt. „Also ehrlich, fahren Sie einen Panzer oder was? Ich sag Ihnen was, wenn Sie das nächste Mal meine Mülltonnen verschieben, schiebe ich Ihre die ganze Straße bis zum Spielplatz runter. Das ist fremdes Eigentum!“. Ich versuche nicht loszulachen und mir nicht anmerken zu lassen, wie skurril mir dieses Gespräch vorkommt. So ähnlich wie in einem Loriot-Sketch. Gerade will ich noch freundlich erwidern, dass ich keinen Panzer fahre, weil ich überzeugte Kriegsgegnerin bin, aber einen Familien-SUV, an dem manchmal noch ein Anhänger angekoppelt ist. Aber ich spare es mir, sie würde den Witz eh nicht verstehen. „Gut, dass wir das geklärt haben“, sagt Frau B. dann schon ein bisschen versöhnlicher. „Ich streite mich ja wirklich nicht gern, aber irgendwann geht es auch mal zu weit!“.


Hat sie überhaupt verstanden, dass auch sie mir das Leben leichter machen kann, indem sie mir einfach zwei Meter entgegenkommt? So ganz sicher bin ich mir nicht, offenbar fühlt sie sich mit ihrer Empörung immer noch komplett im Recht. Ich verstehe die Tragweite des Problems immer noch nicht, beschließe aber, meine Lebenszeit und -energie nicht weiter mit dieser Streiterei für die Tonne zu verschwenden. Also wünsche ich ihr noch einen guten Abend und gehe wieder rein.




Die Faszination des Kleinkriegs


Zugegeben, ganz ohne Konflikte geht es im Zusammenleben nicht. Dauerhaft seinen Ärger und die eigene Unzufriedenheit über alltägliche Irritationen herunterzuschlucken macht ebenso krank wie aus jeder sprichwörtlichen Mücke einen Elefanten entstehen zu lassen. Wie oben bereits erwähnt – Menschen müssen hin und wieder ihre Bedürfnisse und Grenzen kundtun, um zusammen mit anderen Menschen eine gemeinsame Lösung zu finden. Wie oft und gern wir dabei alle über Ziel hinausschießen, sehe ich schon an meinen Kindern. Streit unter Geschwistern … ein Evergreen unter den Dramen, die man als Außenstehender einfach nicht komplett verstehen kann. Ich wünschte, ich wäre selbst vollkommen immun gegen dieses ganze Phänomen der „Kleinkram-Kritik“, die sich gerade in engen familiären Beziehungen sehr schnell einschleicht.


So rolle ich genervt mit den Augen, wenn mein Mann mich zum wiederholten Mal dafür kritisiert, dass ich das Spülmaschinensalz nicht aufgefüllt habe. Auch wenn ich weiß, dass er Recht hat – ich habe es wirklich mal wieder vergessen. Mich wiederum nervt es, dass meine Familie des Öfteren kurz vor Spülmaschine einen Schwächeanfall erleidet und ihr Geschirr dann einfach daneben auf der Arbeitsfläche stehen lässt. Inzwischen ist mein Mann übrigens meistens dazu übergegangen, stillschweigend selbst das fehlende Salz nachzufüllen und ich dazu, das Geschirr mit ein paar Handgriffen über Umwege in die Maschine zu befördern. Schließlich bestreiten wir zusammen das Familieneinkommen, ziehen Kinder groß und haben ein Haus renoviert – da soll der Hausfrieden nicht ausgerechnet von einer banalen Spülmaschine gestört werden.




Einfach mal Dampf ablassen?


An einer Stelle muss ich mich aber als „Alltags-Aggro“ outen … Ich kann am Steuer fluchen wie die Kesselflicker. Dabei weiß ich, dass ich im Grunde nur manchmal selbst unzufrieden mit meinem eigenen Zeitmanagement bin, was den Fahrtweg angeht. Oder mich einfach noch ärgere, dass der Morgen nicht genauso reibungslos abgelaufen ist, wie ich ihn geplant hatte. Die „bescheuerte Ampel“ oder der „lahme Radfahrer mitten auf der Straße“ können ursprünglich nichts dafür, wie sie eingestellt wurden oder dass es keinen ausgewiesenen Radweg an einigen Landstraßen gibt. Sie nerven mich dann einfach nur, weil ich genervt von irgendetwas anderem bin und ich einfach mal Dampf ablassen muss. Immerhin bekommen es die Dinge und Personen ja nicht mit, wenn ich in meinem eigenen Blechkasten über sie meckere – und zum Anhupen war ich auch schon immer zu friedfertig.


Mikroaggressionen im Alltag helfen also kurzzeitig, um ein wenig von dem Druck loszuwerden, der auf uns allen lastet. Durch zahlreiche Verpflichtungen, eine beträchtlich lange To-do-Liste im Kopf und Fremdbedürfnisse, die im Sekundentakt auf uns einprasseln. Das kann einen alles schon einmal in den Wahnsinn treiben – nicht umsonst trägt mein Lieblingshoodie die Aufschrift: „Die Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale!“. Und um dem ganz realen Irrsinn eben etwas entgegensetzen zu können, zetern wir eben hin und wieder wie ein Rohrspatz, üben uns in tiefschwarzem Humor oder beschimpfen Dinge (wie rote Ampeln), die im Grunde nichts für unser Problem können. Denen das aber auch nicht weh tut. Hin und wieder Druck aus dem Kessel abzulassen kann also durchaus heilsam sein – allerdings ist auch hier das Maß entscheidend. Es kann sicher nicht schaden, in stressigen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, das Leben mit einem Schmunzeln zu betrachten, ein wenig nachsichtiger zu sein und sich andere, „friedlichere“ Ventile zum Stressabbau zu suchen. In meinem Fall ist das meistens Schreiben oder mit meinen Katzen kuscheln.




Dauerkrisen machen aggressiv


Zugegeben, sich ein positives Mindset zu bewahren kann inmitten einer Flut von schlechten Nachrichten mehr als herausfordernd sein. Erst die Corona-Pandemie mit ihren zahlreichen Kontaktbeschränkungen und wirtschaftlichen Einbrüchen, dann der Ukraine-Krieg und jetzt noch der wieder entflammte militärische Konflikt im Gaza-Streifen. Alles vor dem Hintergrund einer drohenden Rezession, eines eklatanten Fachkräftemangels in allen Sozialberufen sowie im Handwerk und des bedrohlichen Klimawandels. Jup, man kann im Grunde nüchtern feststellen, die Menschheit hat’s endgültig versaut und darf nun sehen, wie sie ihr eigenes Süppchen aus der Hölle auslöffelt.


Ein weiteres nüchternes Fazit: Game Over - die Menschheit und der Planet stecken bis zum Hals in der … Tinte. Gerade jetzt den Kopf hängen zu lassen, wäre sicherlich das Dümmste, was man tun kann. Dennoch greift bei der ständigen Bedrohung durch diese weltweite Multikrise das evolutionäre „3F“-Schema („Fight, Flight, Freeze“). Konkret bedeutet dies: Die Stresshormone im Körper feiern eine wilde Party, wenn wir unsere Umgebung als zunehmend bedrohlich wahrnehmen. Und unser Stammhirn entscheidet spontan und je nach Persönlichkeitsausprägung zwischen Aggression/ Angriff/ Aktionismus („Fight“), Verdrängung/ Realitätsflucht („Flight“) und Resignation/ absoluter Hoffnungs- und Tatenlosigkeit („Freeze“). Die vierte, sinnvollere „3S“-Option „See, Strategize and Solve“ (Probleme sehen, überdenken und lösen) ist evolutionär bedingt leider nicht im menschlichen „Steinzeithirn“ angelegt. Man muss sie daher bewusst und mühevoll erlernen.


Ich persönlich schwanke in „Gefahrensituationen“ oft zwischen „Freeze“ und „Flight“, bevor ich in den „3S-Modus“ zurückfinde. Frau B. und, wie ich während der Corona-Pandemie häufig bemerken durfte, auch viele andere Mitmenschen scheinen hingegen eher auf „Fight“ gepolt zu sein. Zumindest lässt das Drama um ein paar Mülltonnen dies vermuten. Für eine eingehende Persönlichkeitsanalyse kenne ich sie zu wenig.




Chronisch genervt und in Alarmstimmung - was jetzt?


Manchmal geht einem alles und jeder auf den … Keks. Senkel, Zwirn ... was auch immer. Hin und wieder tragen unsere Mitmenschen auch tatsächlich dazu bei, dass man sich in ihrer Anwesenheit gestresst, genervt und einfach nur unwohl fühlen muss. Niemand kann es leiden, wenn einem der Hintermann mit dem Einkaufswagen in die Hacken fährt, wie in einem kranken Stalking-Thriller in den Nacken atmet oder einen beim Aufpacken permanent unter Druck setzt, indem er demonstrativ auf die Uhr schaut. Natürlich raubt es unnötig Energie, wenn Kinder ein Verbot nicht beachten, das sie schon hunderte Male gehört haben. Und es tut weh, wenn Freunde, Verwandte und Kollegen mit teils unsachlicher Kritik genau die Schmerzpunkte und Reizthemen erwischen, die uns schon auf die Palme bringen, wenn wir nur daran denken.


In vielen Fällen übertragen wir jedoch auch unbewusst unsere eigenen „Baustellen“ auf Personen, die davon nicht mal etwas wissen. Dann wird der Sitznachbar im Kino mit der Popcorntüte zum Nervenkiller, weil wir selbst vielleicht Hunger haben, uns aber kein Popcorn leisten konnten oder wollten. Die „unangebrachten“ Outfits und das bunte Make-up der schlanken jungen Kollegin im Büro finden wir unmöglich und ärgern uns über diese „blonde Barbietussi“, wenn diese nur den Mund aufmacht. Dabei stören wir uns eigentlich nur an ihrem Selbstbewusstsein und ihrem ungezwungenen Umgang mit dem eigenen Körper, weil wir uns selbst gerade in unserer Haut nicht (mehr) wohlfühlen. Und der Nachbar, der es wagt, die Mülltonnen um zwei Meter nach links zu verschieben, wird zur Persona non grata, weil er eben das eigene „Revier“ und jahrelang zementierte Gewohnheiten verletzt.




In diesem Sinne, liebe Frau B., niemand möchte ernsthaft Ihren Anspruch auf liebgewonnene Traditionen angreifen. Ich bin selbst ein Gewohnheitstier und liebe meine Routinen. Sie geben mir in dieser beängstigenden, verrückten Welt voll schlechter Nachrichten zumindest ein bisschen Sicherheit zurück. Wir sitzen also in einem Boot – und wenn ich einmal minimal den Kurs ändern muss, dann tue ich das nicht, um Sie oder irgendwen sonst zu ärgern. Aber natürlich muss auch ich mich regelmäßig fragen, warum manche Worte, Verhaltensweisen und Gesten bei mir Zeitbombencharakter haben. Ich vermute, wenn wir alle uns selbst ein wenig mutiger und offener „zuhören“, uns selbst stärker reflektieren und zumindest kurz nachdenken, bevor wir etwas tun oder sagen, lässt sich manche „Alltagsbombe“ einfach entschärfen. Und ganz sicher sollten nicht nur wir „Normalos“, sondern auch diverse Staatschefs (m/w/x) hin und wieder in Betracht ziehen, ihren riesigen „Zoff am Zaun“ lieber am Verhandlungstisch zu lösen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung fiele hier für alle Beteiligten bestimmt positiver aus.


Nun bin ich neugierig ... Was sind eure schlimmsten Trigger, die euch im Alltag an die Decke gehen lassen? Und wie schafft ihr es, schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen?



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