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Tiefschläge - aber noch lange nicht K.O.!

Wer schon einmal im Fernsehen einen Boxkampf verfolgt hat, weiß, dass dieser sportliche Wettkampf durchaus Kräfte kostet und Verletzungsrisiken birgt. Bereits vor dem ersten Schlag weiß der Zuschauer, dass der Ringrichter am Ende eine Person als "K.O." auszählen wird. Nämlich dann, wenn der Sportler oder die Sportlerin nicht mehr aufsteht und kraftlos "in den Seilen hängt". Diese Praxis mag auf den ersten Blick ein wenig brutal erscheinen - aber wie alles im Kampfsport ist sie fair. Im "echten Leben" kommen Tiefschläge oft ohne Regelwerk - und Menschen treten diejenigen, die schon am Boden liegen.




„Hart! Schnell! Runter! Hoch!“, die Kommandos kommen sprichwörtlich Schlag auf Schlag, und ich befolge sie. Ratet doch mal, wo mein jüngeres Ich sich gerade befindet. Falls ihr nun an etwas Versautes dachtet … Damit hat mein jüngeres Ich mit 15 wirklich noch nichts am Hut. Aber ich nehme natürlich niemandem ein Missverständnis übel 😉. „Faust, Ellbogen, flache Hand, Kniestoß“, kommandiert der Mann vor mir weiter und schaut mich konzentriert aus eisblauen Augen an, während er die Schaumstoffpranken auf der korrekten Position festhält. Ich denke nicht viel nach, schlage einfach zu.


Wut, die einfach mal raus muss


Natürlich schlage ich nicht meinen Trainer – der wäre meinem Teenager-Ich sowieso haushoch überlegen – aber die Kampfsporthalle bietet viele Möglichkeiten, aufgestaute Aggressionen loszulassen. Wie ihr inzwischen mitbekommen habt, befinde ich mich im wöchentlichen Selbstverteidigungstraining und die Pranken und Matten bekommen nun die gesamte Wut ab, die sich seit letzter Woche bei mir aufgestaut hat. Die Wut, den Frust, die Verzweiflung über eine Situation, der ich mich schon seit Jahren ziemlich schutzlos ausgeliefert fühle. Die eisblauen Augen sehen mich weiter fest an, überprüfen, ob die Bewegungsabläufe stimmen. Das ist wichtig, damit man im Kampf nicht aus Versehen sich selbst oder andere verletzt.


Das Training ist anstrengend, mit viel sportbedingtem Körperkontakt und teilweise bereitet es einen auf erschreckend reale Szenarien vor. Angreifer in einer engen Gasse, Spießrutenlauf mit mehreren Gegnern, Nothilfe bei einem realen Versuch, ein Verbrechen zu begehen, Verteidigung mit Alltagswaffen. Oft habe ich nach dem Training ein paar blaue Flecken mehr, aber das stört mich nicht weiter. Die Wunden im Inneren brennen um einiges schlimmer. Ich weiß nicht, ob mein Trainer weiß, dass er mit jeder Stunde Selbstverteidigung Schlimmes bei mir verhindert. Selbstverletzung, Depressionen oder Fremdgefährdung, wie sie durch Schulamokläufer in den USA trauriger Alltag ist. Manchmal weiß ich tatsächlich nicht, wohin mit all diesen ständigen seelischen Verletzungen, die im Inneren pieken wie tausend kleine Nadelstiche. Mit dem Schmerz und der Angst, keinen Ausweg zu finden. Ein wenig überspitzt möchte ich eigentlich einigen Leuten am liebsten "mitten in die Fresse" (pardon, Zitat von den "Ärzten") schlagen. Aber das verbietet mir mein eigentlich friedvoller Grundcharakter. Also wähle ich einen "Safe Space", um all diese Gefühle loszuwerden. Zumindest wieder für ein paar Tage.




Endlich wieder klar und fokussiert


Das Training in der Kampfsporthalle ist mein „Ventil“, damit die Wut entweicht und ich wieder klar denken kann. Niemand weiß hier wirklich, dass mich soziale Ausgrenzung und ständige Beleidigungen in meiner Klasse beinahe in den Wahnsinn treiben und ich mich nur noch durch meine Hobbys in Vereinen noch „erden“ kann. Dass ich mich durch den körperlichen Kampf im Training jedes Mal auf all die kleinen Scharmützel vorbereite, um eine weitere Schulwoche unbeschadet zu überstehen. Viele harte Schläge und Tritte treffen erst die Pranken, dann die Matte. „Gut, alle in den Kreis. Wir machen Technikübungen. Jeder sucht sich einen Partner. Denkt daran – Respekt im Training. Halbe Kraft, halbe Geschwindigkeit.“ Ich spüre, wie mein Kopf wieder klar wird, befreit von all den dunklen Gedanken, die aus mir entweichen wie aus einem kaputten Wasserball. Pfffffft … weg. Ich kann wieder frei atmen und sehe mich nach einem Trainingspartner um.


„Wollen wir?“, fragt mich Mike* (Name geändert). Mike ist ein auf den ersten Blick eher bulliger Typ, hat aber, wenn man ihn besser kennt, das Gemüt eines Kumpels und Teddybären. Und er ist schon ewig hier im Verein. „Klar.“ Ich straffe meine Schultern und nicke. Im Grunde gibt es niemanden, mit dem ich hier nicht auskomme. Ich mag die Leute im Verein und die Leute mögen mich. Das ist wie Balsam für meine tief verletzte, verunsicherte Teenagerseele. Viele hier sind schon längst erwachsen, haben Schule und Studium hinter sich, ernähren eine Familie. Ich gehöre zu den jüngsten Teilnehmerinnen. Aber auch das stört mich nicht. Ich habe immerhin das Gefühl, dass ich mich auf diese Menschen verlassen kann und dass sie mir nicht schaden wollen. Ralf* (Name geändert), unser Trainer, zeigt uns nun ein paar neue Hebeltechniken, um Gegner geschickt zu Boden zu bringen. Wir sollen sie anwenden – und dabei fair bleiben. Das „Stopp“ des Trainingspartners akzeptieren.




Das Training ist eine der seltenen Gelegenheiten, wo ich gefühlt zurzeit sowas wie „Fairness“ und „Respekt“ erfahre. Zu Hause in der Familie und bei meinen besten Freundinnen aus der anderen Klasse – klar. Auch bei der Musikstunde und beim Tennis. Aber einen Großteil meines Tages verbringe ich als Teenager tatsächlich damit, unfaire seelische Tiefschläge abzuwehren. Manche davon gehen „nur“ in die Magengrube, andere direkt unter die Gürtellinie – bildlich gesprochen. Aber das habe ich gerade vollkommen vergessen, denn ich bin voll auf die Techniken fokussiert. Ralf und seine Frau, die auch Trainerin ist, gehen herum und geben Tipps.


Lernen fürs Leben: Eigenschutz und Zivilcourage


„Aufstellen zur Gasse!“, ruft Pia* (Name geändert), die zweite Trainerin im Bunde, schließlich. „Und vorher Trinkpause!“ Alle schlendern ein wenig geschafft zu ihren Wasserflaschen, um einen guten Schluck zu nehmen und sich etwas auszuruhen. Dann geht’s zum Gassenlauf. Ein sehr einfaches Prinzip – die Teilnehmer stehen rotierend in einer Reihe und bilden zur Wand eine schmale Gasse ohne Abzweigung. Ein Trainer ist immer der „Aggressor“ und eine Person muss es an diesem „Aggressor“ vorbeischaffen – „mit Augenmaß, so viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Oder, um es mit Ralfs Worten zu sagen: „die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachten“. Wie in jedem Konflikt gibt es unterschiedliche Eskalationsstufen, auch „Aggressionspotenzial“ genannt. Betritt man die Gasse, wird dem Aggressor eine Stufe zugerufen und danach richtet sich die Art des Angriffs. Auch das "Opfer" bekommt die Regeln des Durchlaufs mit auf den Weg. Sobald man durch ist, gibt es Feedback und man stellt sich hinten an. Der oder die Nächste, bitte!


Diesmal scheint Ralf der Meinung zu sein, dass ich mich schon genug ausgepowert habe. Er mimt einen Sturzbesoffenen, der mir an die Wäsche will, aber auch mit einfachen Mitteln ziemlich einfach abzuschütteln ist. Übrigens-die Schauspieleinlagen bei den Praxisübungen sind manchmal wirklich zum Umfallen. Vor Lachen natürlich. Anna*, die nach mir dran ist, trifft es härter. Ihr Aggressor, Typ Hooligan, ist gerade ziemlich auf Krawall gebürstet. Bei dem beherzten Kniestoß flucht er aber lauter als gewöhnlich. Es ist eben ungünstig, seinen Tiefschutz (zum Auspolstern „unter der Gürtellinie“) zu vergessen, wenn man in die Rolle des Aggressors schlüpft. Zum Glück erholt sich Stefan* (Name geändert) recht schnell von dem Schrecken und von den Schmerzen. „Ein guter Zeitpunkt, um Schluss zu machen, alle waren dran“, meint Pia nun.


Kampfsport ist hart, aber wenigstens fair!


Wir gehen wieder in den Kreis. Verbeugen uns vor den Mittrainierenden und Ralf verabschiedet sich mit dem üblichen Spruch: „Bis nächste Woche – ich geh‘ duschen!“. Und ich muss mich dringend umziehen – Dad wartet sicher schon draußen im Auto. „Na, hast du wieder ein paar blaue Flecken mehr?“, scherzt er. Ich zucke die Achseln und schmunzele. „Ich glaube nicht. Aber das Training war heute auch nicht so hart.“ Das, was meine Nerven morgen in der Schule erwartet, wird sicher härter, denke ich im Stillen, als ich die Autotür hinter mir schließe und mich anschnalle. Denn dann werden die Gruppen für den Klassenausflug zusammengestellt. Zu gern wäre ich mit der B-Klasse mitgefahren, aber leider geht das mal wieder nicht. In meinem Bauch macht sich kurz ein Gefühl breit, als hätte man mir einen unfairen Schlag in die Magengrube versetzt, aber ich spüre auch das neu gewonnene Selbstbewusstsein im Herzen. Das innere Wissen, mich wehren zu können. Wenn ich nur erst einen Weg und eine Lösung gefunden habe.




Für mich waren immer meine Familie, gute Freunde, meine Katzen und natürlich das Vereinsleben Kraftquellen in den schwierigsten Zeiten. Selbst dann, wenn ich niemand anderem mehr vertrauen wollte oder konnte. Was hält euch in eigentlich unerträglichen Situationen aufrecht?


Herzliche Grüße

Eure Cat

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