„Spieglein, Spieglein an der Wand …“ Wir alle sind mit Märchen aufgewachsen und können viele Passagen daraus auswendig aufsagen. Mit wachsendem Alter und zunehmender Medienkompetenz beschäftigte mich mit der Zeit allerdings vor allem eine Frage: Warum zur Holle … pardon, Hölle … sind Frauen im Märchen eigentlich immer solche Giftziegen untereinander und gehen über Leichen für vermeintliche Nichtigkeiten? Und welcher Mann ist es eigentlich wert, sich den eigenen Körper für ihn zu verstümmeln? Sind Stiefmütter eigentlich immer narzisstische Psychopathinnen? Ein Blick auf „märchenhafte“ Stutenbissigkeit und Schönheits- sowieso Frauenideale am konkreten Beispiel.
Fall 1: Schneewittchen und die eiskalte Königin
Vorab: Ich spare mir alle Inhaltsangaben. Das wäre an dieser Stelle Zeichenverschwendung und die böse Königin, die sich ihr Selbstbild komplett von einem magischen Spiegel vorschreibenlässt, ist ja nun hinlänglich bekannt. Mit dem Befehl „Bring Schneewittchen in den Wald, töte sie und bring mir ihr Herz zum Beweis!“ an ihren getreuen Jäger ist sie allerdings ein ziemlich Extrembeispiel für weibliche Psychopathie. Ich meine, hallo, wie viele Mädchen mag es potenziell geben, die „schöner“ sind. Was würde sie mit all jenen tun wollen?
Sie kollektiv umbringen lassen im jährlichen Turnus? Tatsächlich lässt dieser extreme Hass auf die Stieftochter als Rivalin tief in die realen Ängste und irren Wahnvorstellungen der intriganten, tief in Inneren sehr machthungrigen Monarchin blicken. Sie hat einfach Angst, dass die Stieftochter sie irgendwann vom Thron schubst und sie ihren Status als Alleinherrscherin so verliert. An dieser Vermutung wäre durchaus etwas dran, denn Zoff unter (potenziellen) Königinnen gab es schon immer in der Geschichte. Man denke nur an den Fall Maria Stuart. Und in den meisten Fällen endeten sie für eine der Rivalinnen eben tödlich.
Der Krieg um den Status als „Schönheitskönigin“ ist demnach nur ein Vorwand, der verdeckt, dass die angeheiratete Königin in der Rivalität mit der leiblichen Königstochter unterliegen könnte. Insofern jene geschickt heiratet und einen Thronerben in die Welt setzt. Übrigens: Dass sich rivalisierende Frauen in unterschiedlichen Situationen gegenseitig mehr oder weniger schwer vergifteten, kamüber Jahrhunderte in den „besten Familien“ vor.
Fall 2: Aschenputtel und die toxischen Stiefschwestern
Patchwork-Familien waren nicht immer so friedlich und anerkannt wie heute, wie die Lebens- und Leidensgeschichte von „Aschenputtel“ (der echte Name wird dem geneigten Leser nicht verraten) einmal mehr beweist. Die Storyline ist bekannt: Mutter stirbt – Vater hinterlässt Tochter und heiratet neu – Vater stirbt ebenfalls – Tochter bleibt mit drei Tyranninnen zurück, die ihr das Leben zurHölle machen. Im Ernst, heute würde man sich fragen, warum sie sich das überhaupt gefallen lässt und diesem Zickenstall nicht auch ohne Hilfe eines Prinzen von allein den „Stinkefinger“ zeigt. Sie wüsste und könnte ja theoretisch genug, um sich woanders ein Leben aufzubauen.
Dass Aschenputtel so tief in der Patsche sitzt, liegt natürlich wie immer an den Männern. Nein, natürlich nicht am Märchenleser im 21. Jahrhundert, sondern an den patriarchisch geprägten Strukturen, die es einer alleinstehenden Frau nur selten ermöglichten, sich aus eigener Kraft ein Leben aufzubauen. Und die Stiefmutter und Stiefschwestern? Warum sind die eigentlich so furchtbar bissig und tun wirklich ALLES, um einen Prinzen zu heiraten? Auch hier liegt die Antwort in der männerzentrierten und ständischen Gesellschaftsstruktur. Wer einen Prinzen zu fassen bekam, brauchte nie in seinem Leben wieder arbeiten. Wer wiederum Witwe wurde und dann noch ein Stiefkind „durchfüttern“ musste, war historisch betrachtet eine ziemlich arme Socke. Vor allem, wenn es in der Familie keine Söhne gab. Da war es dann doppelt wichtig, möglichst viele leibliche Töchter profitabel „an den Mann zu bringen“.
Fall 3: Die kleine Meerjungfrau und die verbitterte Meerhexe
„Wo die Liebe hinfällt, wächst auch keine Alge mehr“ – so müsste das bekannte Sprichwort bei der „Kleinen Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen lauten. Denn Gras wächst unter der Wasseroberflächeja nicht. Der Prinz an der Oberfläche hat der jungen Meeresprinzessin jedenfalls genug den Kopf vernebelt, um jenseits jeder Vernunft ihre wunderschöne Flosse bei einer ziemlich schrulligen Meerhexe gegen ein paar Menschenbeine einzutauschen. Ein ziemlich schlechtes Geschäft, denn verliebt sich der Prinz nicht innerhalb einer gesetzten Frist in sie, behält sie die Beine und stirbt einsam, sollte er er ein anderes Mädchen wählen! Man muss schon recht naiv und sorglos sein, um das Kleingedruckte im Vertrag zu überlesen – oder einfach nur Hals über Kopf verknallt.
Anders als in der „kinderfreundlichen“ Version von Disneys „Arielle“ stirbt die kleine Meerjungfrau mit den großen Liebesträumen an einem gebrochenen Herzen und wird als Luftgeist wiedergeboren. Und alles nur wegen eines schlechten Deals und einem Prinzen, der dieses Opfer nicht wert war. Eine weitere Frage ist, was die Meerhexe antreibt, das ahnungslose Mädchen in ihr Verderben schwimmen und laufen zu lassen. Entweder konnte sie die junge Dame nicht vom Risiko ihres Vorhabens überzeugen. Oder aber sie ist einfach verbittert davon, in der Meeresgesellschaft so im Abseits zu stehen und keine Stimme zu haben, die gern gehört wird. Außenseiter erfüllen leider zu oft eine Prophezeiung, die ihnen von ihrem Umfeld übergestülpt wird. Was den Betrug der Meerhexe natürlich nur erklärt und nicht rechtfertigt!
Fall 4: Rapunzel und die Hexe mit unerfülltem Kinderwunsch
A propos schlechte Deals … Das eigene Kind an die zwielichtige Nachbarin abzugeben, weil die schwangere Kindsmutter Gelüste nach deren Gartengewächsen hat, ist definitiv ziemlich leichtsinnig von einem werdenden Vater. Dennoch: Wegen Kindesentführung, räuberischer Erpressung, Freiheitsberaubung und arglistiger Täuschung würde die Hexe in „Rapunzel“ auch heute ziemlich lange im Turm einsitzen. Aber wie kommt man in einer Zeit, in der Leihmutterschaft und künstliche Befruchtung noch längst kein Thema sind, auf die aberwitzige Idee, ein Baby für ein paar Pflanzen zu verlangen?
Bei allen Verbrechen, die die Hexe gegenüber Rapunzel und ihren Eltern begeht, muss man ihr eine Sache zugutehalten: Sie kümmert sich fürsorglich um ihren geraubten Schützling, wie eine „echte“, ziemlich seltsame Mutter. Warum die Hexe es für nötig hält, sich ein eigenes Kind zu „ergaunern“, bleibt in dem Märchen der Gebrüder Grimm offen. Möglicherweise hat sie alle Chancen verpasst, selbst ein Kind zu bekommen, oder ist körperlich dazu nicht in der Lage. Gebärneid, oder neutraler gesagt: unerfüllter Kinderwunsch, könnten es also zum glaubhaften Tatmotiv schaffen.
Fall 5: Dornröschen und die gekränkte alte Tante
Stell dir vor, es ist Babyparty im Schloss und du bist als Einzige nicht eingeladen … Und wenn du dann doch ohne Einladung auftauchst, schauen dich alle an wie ein lästiges Insekt. Würdest du wütend werden und sie alle verfluchen – vor allem das Kind, die „Ursache“ dieser peinlichen Situation? Dies tut jedenfalls die böse Fee im Grimm’schen Märchen „Dornröschen“. Auf ewig … oder zumindest 100 Jahre lang soll das Kind schlafen, wenn es sich an einer Spindel sticht … Na gut, objektiv gesehen hätte ein „Dann macht euren Scheiß doch allein!“ auch gereicht. Allerdings wäre damit jede weitere Handlung im Märchen überflüssig – und damit auch das Happy End durch einen rettenden Prinzen. Übrigens: In einer anderen, älteren Version wacht Dornröschen gar nicht durch den Kuss des Prinzen auf, sondern durch das Saugen an der Brust, nachdem sie im Komaschlaf dessen Zwillinge geboren hat … Irgendwie gruselig.
Was wäre, wenn – ein Gedankenspiel
Ich sag’s mal so … Märchen, die NICHT von Disney „weichgespült“ wurden, erfüllen FSK-16-oder-18-Standard in Sachen Gewaltpotenzial. Man muss sich immer vor Augen halten, dass diese in einer rauheren Zeit entstanden sind, in der Todesstrafe, Züchtigungen, Folter, Hunger und Eroberungskriege noch „en vogue“ waren. Hunger, Krankheit und Elend waren im 18. und 19. Jahrhundert Alltag, die Parole „Friss oder stirb!“ hätte sehr gut in diese Zeit gepasst.
Zudem machte das Weibliche den Menschen Angst, Frauenrechte waren noch kein Thema und Aberglaube bestimmte die zutiefst religiös geprägten Zeitgenossen der Gebrüder Grimm und von Hans Christian Andersen. Man muss auch diese ziemlich brutalen Lehr- und Unterhaltungsgeschichten für Kinder und Erwachsene immer im Kontext gesellschaftlicher Einflüsse betrachten. Faszinierend und abschreckend, spannend und lehrreich für den Zuhörer zugleich. Und in sehr einfachen Gut-Böse-Strukturen, da ein Großteil der Konsumenten eben in recht einfachen Zusammenhängen dachte.
Dennoch oder gerade deshalb möchte ich ein kleines Gedankenspiel aus der Perspektive einer heutigen Leserin und Vorleserin wagen. Was wäre wenn …
Schneewittchens Stiefmutter ihre Fähigkeiten als Herrscherin über ihren Verstand definiert hätte, den sie ja offensichtlich besaß?
Aschenputtel und ihre Stiefschwestern voneinander hätten lernen dürfen, anstatt in Konkurrenz zu leben?
Das Unterwasservolk der Meerhexe eine echte Möglichkeit gegeben hätte, sich im Sinne der Gemeinschaft einzubringen?
Die Meerhexe die Meeresprinzessin einfach noch ein wenig deutlicher auf Risiken und Nebenwirkungen hingewiesen hätte?
Die Hexe bei Rapunzel sich um das Wohl von Kindern gekümmert hätte, ohne den krampfhaften Zwang, ein Kind zu „besitzen“?
Die dreizehnte Fee die Ablehnung durch die Königsfamilie einfach ein wenig gelassener genommen hätte, ohne dem Königspaar gleich eine böse Absicht zu unterstellen?
Rapunzel einfach schon eher eine Gelegenheit zur Flucht gesucht hätte?
Aschenputtel schon viel früher einige Meilen zwischen sich und ihre Stieffamilie gebracht hätte?
Sich alle Frauen im Märchen nicht rein über „Schönheit“, „Anmut“, „Tugend“ und „eine gute Partie“ definieren würden?
Frauen in einer von Männern geprägten Welt mehr zusammenarbeiten würden, anstatt sich zu bekriegen?
Vermutlich würden die Antworten auf diese Fragen jeden Handlungsstrang entweder abrupt beenden oder komplett verändern. Aber das sind Dinge, die die Schöpfer dieser magischen Geschichten schlicht nicht wissen konnten.
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