Die meisten Menschen halten Ehrlichkeit für eine entscheidende Eigenschaft, die wirklich jede Beziehung positiv beeinflusst. Trotzdem nehmen wir es oft mit der Wahrheit nicht so genau – und wenden sogenannte Notlügen oder auch „White Lies“ genaugenommen … ständig an. Aber warum fällt es uns so schwer, immer die Wahrheit zu sagen? Eine Alltagsbeobachtung mit Beispielen, die so gut wie jeder kennt.
Jetzt mal ehrlich, wann hast du zuletzt gelogen oder hast die Wahrheit auch nur ein kleines bisschen an die Situation angepasst? Vielleicht beruhigt es dich zu wissen, dass du mit diesen „Minilügen“ nicht allein bist. Denn auch wenn die Zehn Gebote im Religionsunterricht uns eingetrichtert haben, dass Unehrlichkeit eine Sünde ist, sind manche „kleinen Sünden“ zumindest hin und wieder gerechtfertigt und alltagstauglich.
Und so lügen wir zwar nicht ständig, sondern „wohldosiert“ durchschnittlich ein- oder zweimal am Tag, wie eine neuere Studie herausgefunden hat. Manche Menschen flunkern übrigens wesentlich öfter, aber auf die ursprünglich angenommenen 200 Lügen pro Mensch und Tag kommt niemand. Eigentlich ist es überflüssig zu erwähnen, aber der Vollständigkeit halber hängen mögliche Konsequenzen natürlich davon ab, in welchem Kontext eine Lüge geäußert wird und wie „schwerwiegend“ diese ist.
Meine persönlichen „Top 10“ der kleinen Alltagslügen
1. „Wie geht’s dir?“
Fast jedes Gespräch beginnt so – und bei kaum einer anderen Frage kommt man mehr ins Straucheln, was man sagen soll (und darf), oder? Ein kleines Beispiel: Letztens hatte ich im Zuge aktueller Bewerbungsprozesse eine Recruiterin am Telefon. „How are you?“, fragte sie mich sofort.Wie es eigentlich jeder tut. Und wie ich es eben oft tue, schwindelte ich bei dieser „Floskel“ (so klingt es für mich manchmal) ein wenig. „I’m fine, thanks“, antwortete ich ihr höflich. Obwohl ich mich in Realität von „fine“ meilenweit entfernt fühlte. Eher „tired to death“ und wie der letzte Angsthase mit tausend Selbstzweifeln. Wie jedes Mal zu einer bestimmten Zeit im Monat.
Aber über meine PMS- und Regelbeschwerden wollen sich Recruiter ja nun wirklich nicht unterhalten, die Wahrheit wäre hier also mindestens sehr unangemessen gewesen. Also Schultern gestrafft und weitergemacht. Immer, wenn mir jemand diese scheinbar „unschuldige“ Smalltalk-Frage stellt, kommt sie mir ein wenig wie eine Fangfrage vor. Denn ich weiß oft nicht, wie viel Ehrlichkeit mein Gegenüber gerade „verträgt“ und ob er oder sie den Status Quo überhaupt wissen will, anstatt nur höflich zu sein. Die „Minilüge“ ist im Zweifelsfall also mein „Safe Space“, von dem aus ich nichts falsch machen kann. Ähnlich, wie es Sia in ihrem Song „Unstoppable“ beschreibt.
2. „Wie findest du mein neues Kleid? Steht es mir gut?“
Zum Kleidungsdilemma gibt es bereits von Loriot einen Sketch, der die Absurdität dieser Situation auf die Spitze treibt. Denn wenn jemand nach deiner Bewertung äußerlicher Merkmale fragt, kannst du nur verlieren. Egal, ob du „notlügst“ um der Situation zu entkommen, oder eine (gefühlte) Wahrheit aussprichst, die der anderen Person nicht gefällt oder sie gar verletzt – du kannst es nur falsch machen.
Wenn du „Schick, schick“, vor dich hinmurmelst und dabei wenig überzeugend herüberkommst, wird die andere Person dir – zu Recht – keinen Glauben schenken. Beteuerst du zu eifrig, dass der anderen Person die Farbe Blau „ganz besonders gut steht“, erweckst du dadurch ebenso ihr Misstrauen. Und sagst du frei heraus: „Na ja, ich finde das Kleid ein wenig eng um die Hüfte!“, hast du möglicherweise eine tiefe Kerbe ins Selbstwertgefühl deines Gegenübers geschlagen und darfst dich für den Rest des Abends mit einer tief beleidigten und verunsicherten Freundin „vergnügen“. Wenn möglich, verkneife dir also am besten jegliche Kommentare über das Aussehen anderer Menschen – sie könnten es dir immer übel nehmen und jedes Wort gegen dich verwenden. Ja, sogar dann, wenn sie dich zuvor ausdrücklich nach deiner Meinung gefragt haben.
Übrigens: Alter und Gewicht sind auch häufige Punkte, bei denen vor allem Frauen gern ein wenig die Wahrheit anpassen. Aber ehrlich gesagt geht der eigene BMI auch niemanden etwas an, abgesehen vielleicht vom medizinischen Fachpersonal oder es ist sicherheitsrelevant. Dementsprechend ist schon die Frage danach unverschämt und verdient keine ehrliche Antwort.
3. „Was sagst DU denn dazu, dass …?“
Da läuft dieses Gespräch auf einer Familienfeier mit einem Thema, das dir einfach nur unangenehm ist. Oder eine Freundin erzählt dir etwas über andere Personen und erwartet anscheinend, dass du ihr uneingeschränkt zustimmst. Schließlich bist du ihre Freundin, nicht die Freundin der „doofen Tussi, die …“. Was haben diese beiden Situationen gemeinsam? Eigentlich würdest du am liebsten gar nichts sagen. Gemäß den „Ärzten“: „Das sind Dinge, von denen ich gar nichts wissen will…“. Und du spürst, dass du dich in die Nesseln setzen wirst – egal, wie du antwortest. Leider besteht das Gegenüber auf einer ehrlichen Antwort und deine Meinung in dieser Angelegenheit, von der du schlimmstenfalls nicht mal die geringste Ahnung hast. „Jackpot“, denkst du dir und sagst einfach irgendetwas, in der Hoffnung, danach endlich Ruhe zu haben. Selbst dann, wenn es eigentlich nicht hundertprozentig deine Meinung widerspiegelt oder dein Urteilsvermögen übersteigt.
4. „Hast du meine Nachricht bekommen? Ich hatte dich doch gebeten ...“
Berufliche Termine, anfallende Arbeiten in Haus und Garten und diverse Angelegenheiten rund um Kinder und ihre zahlreichen Bedürfnisse – manchmal dürfte der Tag durchaus mehr als 24 Stunden haben. Vorausgesetzt, man möchte noch etwas Zeit mit anderen Erwachsenen oder allein ohne eine To-do-Liste vor Augen genießen. Bei allem „Mental Load“ und „Emotional Load“, den so ziemlich jeder sowieso schon mit sich herumträgt, kommen manche Nachrichten und Anfragen ziemlich unpassend. Zum Beispiel: „Kannst du heute mal beim Supermarkt vorbeifahren und Zwiebeln, Vollkornbrot und Gurken holen?“.
Nach dem ersten genervten Augenrollen und der Erkenntnis, dass der Gang durch einen überfüllten Supermarkt für drei Sachen bei agoraphobischen Tendenzen generell keine gute Idee ist, die entscheidende Frage. Wie reagiere ich richtig, um keinen Konflikt zu provozieren und mir doch nicht noch eine weitere Aufgabe aufzuhalsen? Meistens versuche ich es bei solchen „kleinen Anfragen“ mit einer ehrlichen Antwort, z.B. : „Ich setze es auf die Liste für die nächste Bestellung beim Abholservice. Das ist mir heute zu stressig!“. Die Versuchung ist allerdings oft groß, all diese Anfragen meiner Umwelt außer der Reihe erst einmal zu ignorieren und hinterher zu erklären, dass das Handy eben am Ladekabel hing.
5. „Das mache ich später/morgen/nächste Woche …“
Ja, „Aufschieberitis“ oder auch Prokrastination ist ein schwieriges Thema. Normalerweise versuche ich sie zu vermeiden, wo es geht, und bin eher ein „Präkrastinierer“ – also zum Beispiel die Mutter, die bereits abends den nächsten Morgen penibel vorbereitet. Bei einigen Dingen lüge aber auch ich mir hin und wieder in die Tasche – unter anderem, wenn es darum geht, einen Termin zur Zahnprophylaxe zu vereinbaren. Oder endlich die alten Spielzeuge und Bücher meiner Kinder auszusortieren und zur DRK-Zweigstelle zu bringen. Eigentlich wollte ich mich ja damit beschäftigen, aber … manchmal geht es doch unter. Oder die innere Hemmschwelle durch Ängste und gefühlte Überforderung ist einfach zu hoch. Nicht, dass Aufschieben das Hindernis wirklich beseitigen würde!
6. „Ich kann dir nicht helfen. Damit kenne ich mich nicht aus!“
Menschen können einem verdammt schwierige Fragen stellen – und das zum unmöglichsten Zeitpunkt. Oftmals entsprechen „Ich kann das nicht!“, „Davon habe ich keine Ahnung!“ und „Das habe ich selbst noch nie gemacht“ durchaus der Wahrheit. Aber manchmal haben wir auch einfach keine Zeit, Motivation und Nerven mehr übrig, um wieder irgendjemandem aus der Patsche zu helfen. Da greift man im schlimmsten Fall zu einer kleinen Notlüge, wenn man davon ausgeht, dass das Gegenüber von einer ehrlichen Antwort gekränkt wäre. Im Grunde geht es darum, Grenzen zu setzen und sich selbst vor Überforderung durch fremde Bedürfnisse und Erwartungen zu schützen.
7. „Du kannst das viel besser als ich. Dafür helfe ich bei …“
Natürlich sollte man auch die „Gegenseite“ zu Wort kommen lassen, also die Seite des Hilfesuchenden oder Fragestellers. Grundsätzlich ist es in einer arbeitsteiligen Gemeinschaft nämlich durchaus normal und keinesfalls verwerflich, bei denjenigen nachzufragen, die sich nachweislich auskennen. Waschmaschine kaputt, aber keine Ahnung von Technik? Natürlich bittet man diejenigen um Hilfe, die zumindest wissen, wie eine Maschine von innen aussieht. Oftmals ist das sogar eine Frage der Garantie. Der Behördenbrief muss raus, aber die Deutschkenntnisse reichen noch nicht? Klar ist es in Ordnung, wenn ein Muttersprachler hier Probe liest und Rechtschreibfehler korrigiert. Eine Hand wäscht die andere.
Schwierig wird es nur, sobald Menschen systematisch ihr Umfeld dafür ausnutzen, vermeintliche Wissenslücken und Schwächen über jedes Maß hinaus "auszugleichen". Und dabei verlernt haben, neugierig auf unbekannte Aufgaben zuzugehen. Die sogenannte strategische Inkompetenz dient dabei als Schutzmechanismus, denn der „Lügner“ ist in diesem Fall tatsächlich oftmals innerlich blockiert und glaubt nicht an seine Fähigkeit, eigentlich einfache neue Tätigkeiten und Abläufe zu erlernen. Na gut, in manchen Fällen ist Ahnungslosigkeit auch perfides Kalkül. Stecken aber innere Blockaden oder eine Dyspraxie dahinter, „lügt“ die Person nicht vorsätzlich und absichtlich und will damit niemanden ärgern.
8. „Können Sie das wiederholen? Die Verbindung ist gerade so schlecht!“
Spätestens seit der Corona-Pandemie sind wir es gewöhnt, viele Gespräche, die früher persönlich geführt wurden, in den digitalen Raum zu verlagern. Meetings finden via Microsoft Teams oder Zoom statt und auch das Remote-Vorstellungsgespräch ist zur neuen Normalität geworden. Sehr zur Erleichterung für Leute wie mich, die es geradezu gruselig finden, sich in ungewohnt schicke Klamotten zu werfen, um „live“ vor mehreren Zuschauern eine gute Performance abzuliefern. Immer mit den Gedanken im Hinterkopf, in den Augen der anderen irgendwie dick, doof oder total schräg herüberzukommen. Die Videokamera zeigt zwar auch das Gesicht, aber abwärts der Taille ist alles Spekulation.
Bitte kein zweideutiges Kopfkino hier – es geht hier rein um die Kleiderwahl, unerwünschte Aufmerksamkeit und fremde Blicke. Ein weiterer „Vorteil“ des virtuellen Meetings: Fühlt man sich unsicher bei der Beantwortung von Fragen, eignet sich ein freundlicher Hinweis auf WLAN-Unterbrechungen auch, um Unsicherheiten zu überspielen und etwas Antwortzeit zu gewinnen. Eine Strategie, die auch bei kniffligen Kundenfragen am Telefon schon immer gut funktioniert hat. Fun-Fact: Die Verbindung in meiner Wohngegend ist tatsächlich oft ein wenig instabil.
9. „Dein pinkes Kleid? Das ist gerade in der Wäsche!“
„Maaaaamaaaa! Ich wollte doch das pinke Kleid anziehen! Wo ist das?“ Schon bei einem so langgezogenen „Maaaaamaaaa!“ weiß ich, dass die Kinder mal wieder irgendeine Mission Impossible an mich herantragen wollen. De facto weiß ich manchmal wirklich nicht, wo das Schulkind sein pinkes Lieblingskleid mal wieder vergraben hat. Aber Zeit und Energie, ihr Zimmer mit ihr zu durchsuchen, habe ich dann auch wieder nicht. „Schau halt in deinem Zimmer nach. Ansonsten ist es wahrscheinlich in der Wäsche!“
Den Einwand, dass bestimmte Dinge einfach gerade nicht verfügbar sind, verstehen meist beide Kinder – auch die Kleine schon. Sei es das Lieblingskleid, der Lieblingsbecher für den Kakao oder ein Spielzeug, bei dem gerade die Batterie leer ist. Natürlich weiß ich offiziell nicht, wo Papa die Batterien in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt, ist ja klar. Wenn Zeitplan und Energielevel es zulassen, helfe ich natürlich gern beim Auffinden verschwundener Kleidungsstücke und Spielsachen und verarzte Barbiepferde. Aber ein bisschen elterliche strategische Inkompetenz hat der kindlichen Selbstständigkeit noch nie geschadet.
10. „Diesen Samstag ins Festzelt? Oh, das passt mir leider gar nicht!“
Zeitplanung ist eine Herausforderung – erst recht, wenn man dabei noch ein wenig „Me-Time“ haben möchte. Also die Zeit, die man einzig und allein nach den eigenen Wünschen gestalten kann und sollte. Normalerweise sollte man seine Bedürfnisse frei und offen kommunizieren können. Leider kommt zu viel Ehrlichkeit bei vielen Mitmenschen nach wie vor nicht gut an und das provoziert unnötig Konflikte. Man stelle sich vor, ich sage einer Person, die mich auf die Kirmes ins Festzelt einlädt: „Ich hab dich echt gern, aber du weißt, dass ich viel lieber mit meiner Katze auf dem Sofa sitze und Filme schaue. Außerdem fühle ich mich in Festzelten immer so unwohl“.
Entweder sie versteht mich oder aber sie fühlt sich herabgesetzt, weil ein ruhiger Filmabend mir wichtiger ist als die Verabredung mit ihr. Zum Glück gibt es die bequeme Halbwahrheit: „Ich würde mich wirklich gerne mit dir treffen, aber in Festzelten ist es mir einfach immer zu voll. Außerdem habe ich meinem Mann versprochen, dass wir mal wieder nur zu zweit etwas unternehmen. Man kommt dazu mit den Kindern ja so selten“. Dabei ist ein Großteil der Antwort nicht einmal gelogen.
Ein paar ehrliche Worte unter uns notorischen Lügnern
„Du sollst nicht lügen!“- aber was tun, wenn einem das Umfeld gefühlt keine Wahl lässt? Wenn du dir das nächste Mal Vorwürfe wegen einer kleinen „Alltagslüge“ machst, führe dir auch deine Motivation dafür vor Augen. Ist es Unsicherheit, Überforderung, Angst, Rücksichtnahme, Scham oder schlicht der Schutz deiner persönlichen Grenzen und Werte? Genau hier sollten wir alle ansetzen, um einen ehrlichen, aber immer noch sozial vertretbaren Weg zu finden, unsere Meinungen und Bedürfnisse mitzuteilen. Denn am Ende gilt immer das Sprichwort: Ehrlich währt am längsten. Gerne stelle ich in einem weiteren Blogbeitrag ein paar Alternativen zur „gut gemeinten Falschaussage“ vor.
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